- Red Riding Hood - Unter dem Wolfsmond
Irgendetwas ging dort vor sich, etwas Unheilvolles, und sie musste hin, weil sie nicht die Kraft hatte, sich fernzuhalten.
Sie blieb nicht auf dem Feld stehen, um an Lucie zu denken, oder in dem Hain, um an Claude zu denken. Ihr Herz begann nicht zu pochen, als sie an der großen Kiefer vorbeikam. Ihre Verluste, ihre Vergangenheit. Ein Ort sah wie der andere aus in diesem Weiß, das alles gleich machte. Sie blieb nicht stehen, um sich zu orientieren, sondern ließ sich einfach von der Dringlichkeit leiten.
Sie kam am Fluss vorbei. Er hatte sich mit einer glatten Eisschicht bezogen und sah aus wie eine Schüssel Milch. Sie hörte das Eis knacken, als ein Ast abfiel.
Schließlich gelangte sie in die Black Raven Woods. Bis zum Baumhaus war es nicht mehr weit, nur hundert Meter, doch der Weg, den sie so viele Male gegangen war, kam ihr endlos weit vor. Sie war noch benommen von der Kopfverletzung und sah die gebleichte Welt rings um sie abwechselnd scharf und unscharf. Das einzige Geräusch, das sie hörte, war das Pfeifen des Windes in den vereisten Ästen.
Sie sah sich um. Nichts im Gebüsch. Nichts vor ihr, wo sie hinging, nichts hinter ihr, wo sie herkam. Sauberer Schnee wehte von hinten über den Boden. Im Gehen umklammerte sie den Korb so fest, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. Die Kälte drang durch das Wildleder ihrer Stiefel, und die Kapuze ihres langen roten Mantels umrahmte ihr blasses Gesicht, ihre geröteten Wangen.
Sie wusste instinktiv, wo sie die Füße hinsetzen musste, denn sie war die Strecke schon oft gegangen. Und dennoch hatte sie das Gefühl, dass sie sich zu sehr anstrengen musste, um voranzukommen, als schwimme sie durch Öl. Die ruhige Luft schnitt scharf durch sie hindurch und das Grau des Himmels war mit Ästen bekritzelt. Sie konnte nichts riechen. Selbst ihre Sinne waren eingefroren. Die Finger taub vor Kälte, die Augen blind.
Der Schneefall wurde so dicht, dass sich alles, was mehr als fünf Schritte entfernt war, im gleißenden Weiß verlor. Sie war sich nicht sicher, ob sie bei Besinnung war. Sie vernahm ein kaum hörbares Sirren in den Bäumen. Hier und dort knackte es, doch wenn sie hinsah, war da nichts.
Und doch konnte sie spüren, dass etwas hinter ihr war und dass es näher kam. Sie spitzte die Ohren, versuchte, obwohl sie zu rennen begann, kein Geräusch zu machen. Ein Tier. Bestimmt war es ein Tier. Es ist Tag, rief sie sich in Erinnerung. Der Wolf kann es nicht sein.
Ja. Da war etwas. Sie war sich sicher.
Sie hörte es, lauter jetzt. Dann noch lauter.
Näher.
Sie drosselte ihre Schritte. Sie brauchte keine Angst zu haben. Vielleicht war es Suzette. Vielleicht war sie ihr nachgerannt, erschrocken darüber, wie sie aus dem Haus geflüchtet
war. Oder Henry, der ihr sagen wollte, dass er bleiben würde.
Aber … vielleicht war es auch der Wolf in seiner Menschengestalt. Doch wer oder was auch immer es war, schlimmer als das, was sie bereits durchgemacht hatte, konnte es nicht kommen. Und so drehte sie sich um, erschöpft und bereit, einem düsteren Schicksal ins Auge zu blicken.
Was sie sah, ließ ihr den Magen zusammenkrampfen und zwang sie fast in die Knie.
Die dunkle Gestalt, die aus dem Schnee auftauchte, holte sie ins Leben zurück, riss sie aus ihrer Mutlosigkeit. Sie taumelte ein paar Schritte rückwärts, konnte dann aber nicht weiter.
Es war Peter, ihr Peter, der dem Mädchen nachlief, das er liebte, dem Mädchen, ohne das er nicht leben konnte. Sein schwarzes Hemd war zerrissen, sein Mantel fort.
»Valerie, Gott sei Dank, du bist in Ordnung.«
Sein Gesicht glitzerte in der Kälte. Es war schön, der Schnee in seinen Wimpern wie Diamanten, das kühle Rosa seiner Wangen, das nasse Rot seiner Lippen. Er wankte auf sie zu.
»Ich muss dich aufgeben.« Sein Atem ging in ungleichmäßigen Stößen. »Bei mir bist du nicht sicher.«
Was immer er auch sein mochte, er konnte nicht schlecht sein. Ein verblüffender und schrecklicher Gedanke kam Valerie in den Sinn und verdrängte alle anderen.
»Peter …«
Mit ausgebreiteten Armen trat sie auf ihn zu. Endlich ergab sich einer dem anderen und ihre Körper fanden zueinander. Ihre kalten Finger wärmten sich an seiner Wange und seine Arme schlüpften unter ihren roten Mantel. Jetzt
gab es nur noch sie beide, umweht von ihren langen blonden Haaren, umhüllt von schützendem Weiß, von dem sie rot und schwarz abstachen. Sonst nichts. Valerie wusste, dass sie niemals getrennt von ihm sein konnte. Sie war,
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