Fey 09: Die roten Klippen
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Luke kauerte in dem Gebüsch, das den Bauernhof seines Nachbarn Medes von jenem anderen Hof trennte, den sich die Fey als Stützpunkt ausgesucht hatten. Er konnte kaum etwas erkennen. Er war kurz nach Monduntergang mit seinen drei Gefährten aufgebrochen. Luke verspürte keine Nervosität, aber er hörte Jonas heftige Atemzüge, das Rascheln von Medes’ Kleidern, wenn dieser sich bewegte, sowie Totles gelegentliches ängstliches Keuchen.
Keiner von ihnen hatte jemals etwas dergleichen getan. Die drei Männer und Luke waren Bauern. Sie hatten Land gerodet, bepflanzt und seit frühester Jugend hart gearbeitet. Als die Fey vor zwanzig Jahren die Insel erobert hatten, war Totle noch nicht einmal auf der Welt gewesen. Luke hatte damals gegen die Eroberer gekämpft, Jona und Medes nicht.
Dann hatten die Fey Luke gefangengenommen. Die Art und Weise, wie die Fey ihn und seinen Vater behandelt hatten, hatte Lukes Leben von Grund auf verändert.
Auch jetzt, nachdem die zweite Invasion der Fey zur Absetzung des Königs und zur totalen Zerstörung der Hauptstadt Jahn geführt hatte, wußte er nicht, wo sich sein Vater aufhielt. Außerdem waren alle Bauern und alle Inselbewohner gezwungen worden, in den Diensten der Fey zu arbeiten. Luke hatte beschlossen, nur tagsüber für die Fey zu arbeiten. Nachts hingegen wollte er alles daransetzen, ihnen zu schaden.
Die anderen hatten sich ihm angeschlossen, weil auch sie die Fey von der Insel vertreiben wollten. Sie wußten genausogut wie Luke, daß ihr Vorhaben scheitern würde und sie für ihren Mut womöglich mit dem Leben bezahlen mußten, aber sie kannten die Schwäche der Eroberer.
Diese Schwäche bestand in der Überheblichkeit der Fey, in ihrem unerschütterlichen Selbstvertrauen und dem festen Glauben an die eigene Unbesiegbarkeit. Luke hatte selbst gesehen, was mit jenen Fey geschah, die diesen Glauben verloren. Sie hatten Fehler begangen. Sie waren gestorben.
Luke hoffte, daß es ihm gelingen würde, das Selbstvertrauen seiner Feinde heute nacht bis in die Wurzeln zu erschüttern.
Er warf einen Blick auf seine Mitstreiter. Jona, der Nachbar, der ihm dabei geholfen hatte, diese kleine Kampftruppe aufzustellen, war ein gertenschlanker Mann und fast genauso alt wie Lukes Vater. Er hatte das drahtige, dünne Aussehen eines Menschen, der sein ganzes Leben lang im Freien gearbeitet hat. Obwohl Jonas Haut von all den Jahren auf dem Feld tief gebräunt war, hatte Luke darauf bestanden, daß er sich noch zusätzlich Erde ins Gesicht rieb. Jona trug die dunkelsten Kleider, die er besaß, und auch diese waren vorsichtshalber noch mit der tiefschwarzen Erde beschmiert, der die Inselbewohner ihre üppigen Ernten verdankten. Abgesehen von den hellen Augen war Jona in der Dunkelheit fast unsichtbar.
Totle war der Jüngste der Gruppe. Sein Hof lag einige Meilen entfernt von Jonas Anwesen. Luke war Totle noch nie zuvor begegnet. Er war mit Jona zusammen Lukes Aufruf gefolgt. Der junge Mann war Anfang Zwanzig und hatte den Bauernhof erst im Jahr zuvor nach dem Tod seines Vaters übernommen. Er war so mager, wie es nur sehr junge und besonders lebhafte Menschen sein können. Die Sonne hatte Totles Gesicht während der vielen Stunden, die er vor der Ankunft der Fey auf seinem Land gearbeitet hatte, dunkel verbrannt, und auf seiner linken Wange prangte eine Narbe, die er sich bei der Verteidigung seines Hofes gegen die Fey eingehandelt hatte.
Sie hatten ihn nicht getötet. Die Fey hatten große Achtung vor den Bauern. Schließlich hatten sie die Blaue Insel aus zwei strategischen Gründen erobert: Erstens lag sie genau zwischen dem Kontinent Galinas, den die Fey bereits erobert hatten, und Leutia, dem nächsten Ziel der Fey, und zweitens war die Blaue Insel unermeßlich fruchtbar. Während sich die Fey langsam über die Welt ausbreiteten, wuchs ihr Bedarf an Nachschub und Proviant gewaltig. Bereits jetzt hatten sie den Inselbauern genaue Anweisungen erteilt, wie sich der Ernteertrag steigern ließ und wie die Erwartungen der Fey zukünftig aussahen.
Medes, das letzte Mitglied von Lukes Truppe, kauerte neben Jona. Medes war ein korpulenter Mann, dessen Arme aus gewaltigen Muskelsträngen bestanden. Da seine Beine eher dünn waren, trug er das Hauptgewicht seines Körpers im kräftigen, durch die ausgeprägten Muskelpakete beinahe rund wirkenden Oberkörper. Auch er hatte seine Haut zur Tarnung mit Erde eingerieben. Seine silbergrauen Haare hatten sich dabei als das größte
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