Reich durch Hartz IV
ihren Kindern einen Schlüssel um und gingen arbeiten. Es gab noch nicht die Heerschar Kümmerer und Sozialpädagogen von heute, die voraussagte, dass aus Kindern nie etwas wird, wenn sie nicht von der Mutter, im Hort oder im Kindergarten ständig betreut würden.
Viele Mütter meiner Schulfreunde schlugen sich mit Putzen durch, und wenn ich sagte: »Gehen Sie doch zum Sozialamt, da hilft man Ihnen. Sie haben doch einen Anspruch auf Hilfe!«, entgegneten sie stets: »Ich gehe niemals zum Amt. Das schaffe ich allein!« Man wollte nicht, dass der Staat sich ständig in alles einmischte, sich um alles kümmerte, sich für die Befriedigung aller Bedürfnisse und Lösung aller Schwierigkeiten verantwortlich zeigte. Irgendwann in den Siebzigerjahren schlug diese Haltung um. Auf einmal sagten alle: »Ja, da habe ich einen Anspruch drauf!«, »Das steht mir schließlich zu«, »Da nehm’ ich doch, was ich kriegen kann!« Auch eine Variante: »Ich hol’ mir nur zurück, was der Staat mir nimmt!«
Von der neuen Haltung erzählt dieses Buch. Es ist entstanden aus Eindrücken der letzten zehn Jahre, als ich zusammen mit einem Team aus Kameramann und Toningenieur Dokumentarfilme machte. Beispielsweise ging es um die verzweifelte Suche eines Bauern, der 3500 Erntehelfer auf seinen Salat- und Kohlfeldern beschäftigt, darunter trotz drei Millionen Arbeitsloser nicht ein einziger Deutscher. Ich berichtete über die Hartz-IV-Reformen, und als wir unser Stativ im Jobcenter aufbauten, stellte ich verblüfft fest, dass es ein Mythos ist, alle Arbeitslosen suchten verzweifelt und dringend einen Job. Vielmehr hat sich eine nicht unbedeutende Anzahl von Arbeitslosen – natürlich nicht alle – mit Hartz IV gut eingerichtet. Ich vernahm den Alarmruf: »Armut in Deutschland«, las und hörte von Jugendlichen, die angeblich Hunger litten, begleitet von dem empörten Aufschrei »und das mitten im reichen Deutschland«. Ich fuhr zusammen mit dem Kamerateam zu Suppenküchen und fand viele Kinder vor, deren Eltern nicht arm, aber überfordert waren. Wir besuchten Jugendliche, die nie einen Schulabschluss gemacht, aber die Verantwortung für sich selbst schon lange abgegeben hatten. Und wir entdeckten eine florierende Hartz-IV-Maschinerie, die nicht nur Arbeitslose am Laufen hält, sondern auch die »Fürsorgekonzerne« quer durch die Republik. Denn das Heer der Kümmerer und Anbieter von Maßnahmen, jene Fürsorgekonzerne und die »Arbeitslosenindustrie« können ja nur so lange existieren, wie ihre Klientel bedürftig ist – und es vor allem bleibt. Also werden unsinnige Bildungsmaßnahmen für Arbeitslose angeboten, die nichts bringen, schon gar keine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung, die aber aus Steuergeldern gut bezahlt werden.
Auch Firmen und Konzerne haben entdeckt, dass die Hartz-IV-Industrie für sie lukrativ ist. Sie bilden Arbeitnehmer nicht mehr im eigenen Betrieb aus, sondern lassen sich die Ausbildung ihrer Arbeitskräfte vom Staat finanzieren. Auch hier lautet das »Argument«: »Darauf haben wir doch einen Anspruch, das können wir doch mitnehmen, wenn der Staat es sowieso bezahlt oder bezuschusst.« Es gibt Unternehmen, die an ihrer Wohltätigkeit sogar verdienen, und manche von ihnen kassieren wiederum Kopfprämien für die Vermittlung von Arbeitslosen, die ein halbes Jahr später erneut auf der Matte stehen, damit das Spiel wieder von vorne losgehen kann. Davon später mehr.
Haltungen wie diese sind gefährlich, weil sie in naher Zukunft dazu führen werden, dass der Staat den Karren an die Wand fährt. Wir sind zu Recht stolz auf unser leistungsfähiges Sozial- und Gesundheitssystem. Es garantiert, dass niemand sterben muss, weil Krankenhäuser sich weigern, einen Menschen aufzunehmen, der die Kosten nicht tragen kann. Niemand muss obdachlos auf der Straße sitzen, wenn er das nicht will. Für jeden wird gesorgt mit einer Grundsicherung, die Nahrung, ein Dach über dem Kopf, etwas zum Anziehen und kostenlose Schulbildung für Kinder garantiert.
Doch über diese Grundsicherung hinaus bestehen weitere Begehrlichkeiten: Da ist der Ruf nach »sozialer Teilhabe«, unter der der eine Theater- und Kinobesuche versteht, der andere einen gelegentlichen Restaurantbesuch oder die Möglichkeit, Geburtstagsgeschenke zu machen. Die Diskussion kulminiert in der Regel in der Behauptung, wer das alles nicht könne, sei »ausgegrenzt«; der Staat, die Gesellschaft nähme diesen Menschen so die Würde, die nur durch höhere
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