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Reifezeit

Reifezeit

Titel: Reifezeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sophie Fontanel
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Decke, von der der Putz abgeblättert sei, in einem Bereich, in dem man es mehr schlecht als recht geschafft habe, ihn zu befestigen. »Das macht nicht gerade Lust. Damit schneiden sie sich ins eigene Fleisch«, erklärte sie. Als stellten diese in der medizinischen Einrichtung verfügbaren Patienten eine auserwählte, für die Einschaltquoten entscheidende Zuschauerschaft dar, eine überdurchschnittlich eifrige Konsumentenschar, und als sei die Medi enwelt gut damit beraten, diese zufriedenzustellen.
    Als ich ging, dachte ich: Später, wenn ich einmal alt bin, wird es vielleicht in den Krankenhäusern Bildschirme geben, die die gesamte Wand einnehmen. Die Wände werden nicht mehr lachsfarben, sondern weiß sein, und auf dieser weißen Fläche werden die gewünschten Bilder vorüberziehen. Über eine Webcam wird man die Menschen, die man liebt, dabei beobachten können, wie sie gerade in einem Park ihr Mittagessen einnehmen. Und man wird zu ihnen sprechen. Und sie werden uns hören.

W o wir gerade von diesem beobachtenden Blick reden – ich werde nie den starren Blick vergessen, mit dem sie mich eines Abends, es war Weihnachten, fixierte. Im Korridor hatte das Personal mit Hilfe von Klebeband Girlanden drapiert. Ich hatte Kaviar mitgebracht, ein winziges Döschen, hatte ihn auf einem weißen Tischtuch angerichtet und eine Flasche Champagner geöffnet. Der Blick meiner Mutter war von Anfang an auf mich geheftet, doch ich war damit ­beschäftigt, den Tisch zu decken, und bemerkte nichts. Erst anschließend, als ich ihr den Kaviar zuschob, stellte ich fest, dass sie nicht etwa schon die Hand danach ausstreckte, sondern beide Hände unter die Bettdecke geschoben hatte, und ich begriff angesichts ihrer demonstrativen Reglosigkeit, dass sie sie auch nicht darunter hervorbewegen würde. Dass sie nichts essen würde. Ich fragte, wie es um ihren Appetit stehe, doch sie antwortete nicht. Ihre Augen bewegten sich mechanisch wie Kugeln in einem Kugellager und folgten mir durchs Zimmer, während ich darum bemüht war, Festtagsstimmung heraufzubeschwören. In ihrem Blick lag eine Bitte. Oder eine Angst, die sie hegte. Anfangs redete ich, ich packte die Geschenke aus, die ich mitgebracht hatte. Ich zeigte ihr das hübsche altrosa Bettjäckchen, ohne dass ich es gewagt hätte, näher zu treten, um es sie befühlen zu lassen, so spannungsgeladen war die Atmosphäre um ihr Bett unter ihrem Blick. Ich zeigte ihr die – samtweichen – Mokassins aus Veloursleder, die, von denen sie stets geträumt hatte. Doch wo waren ihre Träume an jenem Abend geblieben? Schon bald war ich damit fertig, Stück für Stück meine Wunder vor ihr auszubreiten, und es kehrte Schweigen ein. Es geschah das, was ich von Anfang an zu vermeiden gesucht hatte: Ich sah zu ihr auf, und angesichts ihrer stummen Verzweiflung schnürte sich mir das Herz zusammen. Jetzt war es nicht länger angesagt, immer neue Gesprächsthemen aus dem Hut zu zaubern. Ihr Blick ging mir unter die Haut, und die Wahrheit, die sie mir injizierte, erfüllte mich mit grenzenloser Müdigkeit, so als hätte ich seit Jahrhunderten nicht mehr geschlafen. Mir war zum Heulen zumute. Doch ich riss mich zusammen. Sie schluchzte auf ihre ganz eigene Art und Weise. Keine Träne rann aus ihren Augen, doch in ihrer Kehle hatte sich verdächtig viel Speichel angesammelt, und ich stellte fest, dass die schwachen Laute, die aus ihrer Kehle drangen, gleichsam das Ticken der Uhr ersetzten. Sodass ich mich schließlich und endlich, etwa nach einer Stunde dieses qualvollen Beisammenseins, während der ich mich mit zähen Fragen abgemüht hatte – ob sie sich schlecht fühle, ob sie ­deprimiert sei, ob sie ihren Moralischen wegen Weihnachten habe, ob sie vielleicht morgen oder überhaupt irgendwann wieder Appetit haben würde –, erhob. Sie drehte den Kopf zur Wand. Ich nahm die Geschenke wieder an mich, damit sie ihr dort nicht gestohlen würden. Ich war auf ganzer Linie gescheitert.
    Mein Gott ja, es war schwierig für mich, im Laufe dieser Jahre innerlich zu akzeptieren, dass eine alte Dame das Recht dazu hat, deprimiert zu sein.

E ines Tages stand sie in Südfrankreich auf dem Balkon und beobachtete einen Schmetterling. Ich verfolgte die Szene vom Inneren des Hauses aus, wo es dunkler war. Draußen das Flügelwesen, blassblau, verbrämt mit einer Bordüre aus Weiß. Selbst ich konnte diesen Schmetterling erkennen. Doch da er so blau wie der Himmel war, würde er darin aufgehen, sobald er in die

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