Reifezeit
darüber. Jedoch nicht in der Weise, wie mein Freund sich das vorstellt. Sondern er saugt sich gleichsam am Bett fest. Die Lider gesenkt, erwartet er seine hochverehrten Gäste: die Mikroben, die Bazillen, die resistenten Bakterienstämme. Große Familien, über die er ausnahmslos alles weiß (häufig hat er seine eigenen Kinder gepflegt oder auch seine Eltern oder sich selbst). Er erkennt jeden der Geladenen wieder. Lässt diese Horde bei sich einfallen, wohl wissend, dass sein Zuhause, seit er kapituliert hat, nicht mehr der Ort ist, an dem er so viel erlebt hat und an den er nie mehr zurückkehren wird, die Bleibe, deren Tür er nie wieder öffnen wird. Sein Zuhause, das ist jetzt sein Körper. Dort empfängt er alle. Auf dass sie über Nacht bleiben. »Bleibt, so lange ihr wollt.« Und die Gäste richten sich häuslich ein, wer täte das nicht? Die Parasiten mischen sich unter die anderen. Die Pilze, diese Schmarotzer. Sie fühlen sich so richtig wohl in diesem Körper. »Es muss endlich ein Ende haben!«, schreit dieser Körper laut heraus, denn der Körper spricht stets die direkteste Sprache. Die echte Familie kommt plötzlich häufiger zu Besuch. In dem kleinen Schlafzimmer scheinen die Besucher zu lächeln. Das sollten Sie mal sehen. Und die Pflichtbesuche an Festtagen, da tragen sie vielleicht eine gute Laune zur Schau. Also zum Beispiel an Weihnachten, bei Familientreffen. Pah, ist das denn wirklich so wichtig, wie die Einzelnen gelaunt sind? Zuweilen sagt man ein letztes Mal die Wahrheit. Wenn man nicht mehr auf Einkaufstour gehen kann, ist dies das letzte Geschenk, das man zu bieten hat. Ja, vielleicht ist es ein feierlich präsentiertes Nichts, die Art, wie man sich ausdrückt. Doch was wäre ein Geschenk schon ohne eine schöne Verpackung?
E in Essen, irgendwann in den letzten Jahren. Wir hatten nichts Dümmeres zu tun, als darüber zu sprechen, wer wohl gut im Bett sei und wer nicht. Und wir erstellten Listen. Auch ich beteiligte mich daran. Oft sind ja die blödsinnigsten Zerstreuungen die amüsantesten. Und ich kam dadurch zumindest auf andere Gedanken. Doch während jeder mit seinem Vorschlag herausrückte und einen Namen in die Runde warf, gefolgt von Kommentaren wie »Oh ja, absolut!«, »Uhhh, bloß nicht, wie grässlich!«, »Ich hab es als Erster gesagt« und »Na ja, die, nur wenn’s sein muss …«, und während auch ich munter mitzumischen begann, kein bisschen besser als die anderen, beschlich mich der Gedanke, dass das, was wir da taten, nun, nicht nur schrecklich hohl, sondern obendrein noch entwürdigend war. Einer wagte es, den Namen einer Frau zu nennen, die bereits die vierzig überschritten hatte, worauf sich alle entrüstet gaben – eine solche Kandidatin kam nicht in Frage! Sie zogen die Jugend dem Alter entschieden vor. Und wer hätte ihnen das zum Vorwurf machen wollen? Doch das eigentlich Erschreckende war, an welchem Punkt sie den Beginn des Verfalls ansetzten: eine bezaubernde junge Frau, drei von ihnen hatten sich bereits näher mit ihr eingelassen. Doch nun hatten sie das Interesse an ihr verloren, denn sie hatte ihre Zeit gehabt. Sie war dreiunddreißig. Ich dachte an meine Mutter, die am Vortag zu mir gesagt hatte: »Bist du wirklich sechsundvierzig? Nein wirklich, bist du dir sicher? Saugst du dir das nicht gerade aus den Fingern, um mir eine Freude zu machen? Nein? Wirklich nicht? Es stimmt also … Mein Gott, bist du jung! Ich habe eine Tochter, die erst sechsundvierzig ist!« Sie hatte die Hände gefaltet, wie jemand, der bis dahin überhaupt nicht ermessen hat, welch kostbaren Schatz er besitzt.
Als ich nach jener Abendeinladung nach Hause zurückkehrte, sagte ich mir: »Was sind das für Menschen, die eine junge Frau von dreiunddreißig als ›nicht mehr ganz tau frisch‹ abtun? Und was werden sie, die so kleinlich richten, machen, wenn ihre schöne Haut und all das dahin sind? Mit der Jugendlichkeit welcher anderen jungen Frau oder welches anderen jungen Mannes werden sie ihre Angst vor dem Alter kompensieren? Und werden sie wirklich funktionieren, diese Tricks, mit denen sie der Vergänglichkeit zu entrinnen suchen?« Verwirrt und jeglicher Illusionen beraubt, sagte ich mir, dass dies vermutlich schon funktionieren würde. Dass sie alle Chancen hätten. Und wenn sie es waren, die recht hatten? Und wenn man bereits mit der Hälfte der Jahre, die meine Mutter auf dem Buckel hatte, zum alten Eisen zählte? Wenn man so etwas wie eine Tote war, die
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