Reifezeit
fortan, für den gesamten Rest ihres Lebens auf das Ende wartet? Ja, was dann?
Auf der verlassenen Straße begehrte ich gegen diesen Unfug auf, indem ich einen lauten Schrei ausstieß. Ein Herr im Anzug, der gerade an eine Mauer pinkelte, dachte, ich empörte mich über ihn. Er konnte sich kaum noch auf den Beinen halten, denn er war betrunken, er mit seinem schönen Pashminaschal und dem eleganten Hut. Und ich fragte mich, ob er auf der Flucht vor einer Mutter oder vor der Dummheit war.
W ir sehen Fotos an. Zum ersten Mal seit zehn Jahren öffnet sie diese Kiste. Zu meinen Kinderzeiten bewahrte sie im Deckel, nicht etwa im Verborgenen, sondern, im Gegenteil, gut sichtbar unter einer Klarsichtfolie, das Foto eines Mannes auf, den sie einst geliebt hatte. »Wo ist denn das Bild von Marcel Vincent?«, frage ich. »Von wem?«, fragt sie zurück. Ich erinnere sie daran, dass sie vor meinem Vater einen anderen Mann geliebt hat. Dass dieser Mann Katalane war und möglicherweise auch elsässisches Blut in den Adern hatte. Ja, richtig, sie entsinnt sich daran. »Stell dir bloß vor«, sagt sie zu mir, »wie alt er jetzt wäre … Er hat mich nicht verlassen, sondern mir ist die Sache klar geworden. Ich war ihn eines Tages besuchen gegangen, doch er war gerade außer Haus, weil er etwas besorgen musste. Auf einem Tisch sah ich einen Brief liegen. Er war noch nicht fertig geschrieben und lag unter einem Schal verborgen. Du weißt, ich verabscheue das zutiefst, oh Gott, ich verabscheue das wirklich, diese krankhafte Angewohnheit der Frauen, den Männern nachzuspionieren. Ich habe nur näher hingesehen, weil es mir schien, als hätte ich meinen Vornamen am Anfang des Briefes gelesen. Und tatsächlich, da stand mein Vorname. Wenn dort mein Vorname stand, so änderte das die Ausgangslage. Einen Brief, der an einen selbst gerichtet ist, darf man doch wohl mit gutem Recht lesen. Ich war gerührt, dass er mir schrieb. Man kann sagen, was man will, aber das geschriebene Wort hat doch eine gewisse Kraft. Ich lese also den Brief, und darin steht, dass er mich liebt und dass er so glücklich ist, mich zu heiraten. Ich bin zugleich erfreut und verblüfft. Wir haben nie von Ehe gesprochen. Und dann schreibt er auch noch, es sei eine gute Idee, in Lyon zu heiraten. Und er könne es kaum erwarten, Paris den Rücken zu kehren. Lyon? Warum Lyon? Na, um es kurz zu machen: Er heiratete eine Frau, die denselben Vornamen trug wie ich. Ich setzte mich aufs Bett. Ich wartete, den Brief in der Hand. Er kam nach Hause, sah mich und wurde kreidebleich. Dann sagte er: ›Diese Frau hat Geld, sie ist imstande, mir zu einer angesehenen gesellschaftlichen Position zu verhelfen.‹ Kannst du dir das vorstellen, dass einer seinerzeit solche Reden führte? Als ich dort hinausging, kam ich mir vor wie die ärmste aller Kirchenmäuse. Ich besaß keine materiellen Reichtümer und verlor obendrein an jenem Tag noch mein kostbarstes Gut, nämlich den Mann, den ich liebte. Meine Güte, wie uralt er jetzt wäre! Doch halt mal, warte: Was, wenn er noch am Leben ist? Denke nur, ich würde ihm begegnen; ich würde ihn höchstwahrscheinlich gar nicht wiedererkennen. Nicht die Liebe erstirbt, ja nicht einmal das Begehren. Ich werde dir etwas sagen: Was vergeht, ist die Ähnlichkeit mit dem eigenen äußeren Bild.«
S ie ruft mich an. Ihr steht der Sinn nach etwas Bestimmtem, und sie hätte gern, dass ich ihr herauszufinden helfe, nach was. Es hängt zusammen mit den Austern, die sie gestern geschlürft hat. Sie prustet vor Lachen, so albern ist es, dass es ihr nicht mehr einfallen will. Ich zähle eins nach dem anderen auf. Baguette? Roggenbrot? Doch nein, das ist es nicht. Es ist auch nicht die Butter, »da kennst du mich aber schlecht«, wie sie bemerkt. Wir gehen selbstverständlich alles durch: Könnten es in Essig eingelegte Schalotten sein? (Die liebt sie.) Das ist es jedoch ebenfalls nicht. Irgendwelche anderen Meeresfrüchte? Nein. Am Ende meiner Weisheit angelangt, frage ich: Gurken? Sie hatte mir eines Tages erzählt, wenn keine Austern verfügbar seien, dann könne man auch Gurken essen, da beide das gleiche Aroma hätten, zugleich frisch, wässrig und salzig wie das Meer. »Aber nicht doch, keine Gurken!«, entgegnet sie empört. Ich habe das Gefühl, jenes Kinderspiel zu spielen, bei dem einer zu dir sagt: »Heiß!« oder »Kalt!«. Und sie – sie verzweifelt an ihren Erinnerungslücken. Vorübergehender Themawechsel, als wir uns über ihr
Weitere Kostenlose Bücher