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Reifezeit

Reifezeit

Titel: Reifezeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sophie Fontanel
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Gutmütigkeit von ihm. Die Lust an sinnlichen Vergnügungen – die er empfand, wenn er sich mit seiner Frau vergnügte, falls das denn möglich war. Seine Fähigkeit, mit jedem Beliebigen ins Gespräch zu kommen: auf einem Autobahnrastplatz, im Wasser, wenn er auf die großen Bojen zuschwamm, wenn er auf einem Holzsteg saß und seine Sandalen wieder zuschnallte, in einem Autoskooter; im Bois de Boulogne, wo er in einem Anflug spontaner Sympathie auf eine Prostituierte zugegangen war, überzeugt, dass sie Gärtnerin war und aus keinem anderen als diesem Grunde in den üppig begrünten Alleen auf und ab lief, damit beauftragt, in den Städten die Blumen zu zählen. Ich bin nach ihm geraten, jawohl, ihm, der mir einst sagte: »Wie wunderschön sie damals aussah, deine Mutter, als wir uns zum ersten Mal begegneten, diese Ausstrahlung, die sie damals besaß.«
    Und dann habe ich auch einiges von ihr. Diese Schwäche für Männer, die etwas hermachen. Alfred de Musset, von dem sie mir ganze Passagen zitierte. Dies »Und keiner kennt sich selbst, so er nicht gelitten hat« – ein Satz, der mich meine ganze Kindheit über begleitete. Ihr erster Liebeskummer. Ihre Jubelschreie im Schnee in La Clusaz, im Departement Haute-Savoie. Wir hatten kein Geld. Die Skipässe, die Ausrüstung, das alles kostete ein Vermögen. Aber sie hatte eine viel bessere Idee, und so jagte ich die Pisten nicht auf Skiern, sondern in riesigen Sprüngen hinunter. Wenn man dabei stürzte, tat man sich wenigstens nicht weh.

E ines Sonntags im Fernsehen Charles Aznavour. Ich schaue einige Minuten mit ihr gemeinsam, um ihr eine Freude zu machen. Er und meine Mutter sind beide Armenier, im selben Jahr geboren, ja fast auf den Monat genau gleich alt; sie waren beide von Kindesbeinen an in Paris zu Hause, verkehrten in ihrer Jugend in demselben Freundeskreis, fühlten sich beide gleichermaßen zur Dichtkunst hingezogen, hatten denselben Humor, waren von demselben Spleen besessen, dass sie Weltbürger und Franzosen waren, und erst in zweiter Linie Armenier. Die gleichen Augen. Einst war er für ihre Begriffe zu klein, nur, dass er jetzt, zum Ende des Lebens, größer ist als sie, weil er rüstiger ist, aktiver. Das kommt ihr seltsam vor, ihn auf der Bühne herumhüpfen zu sehen, während ihre eigenen Beine sie kaum noch tragen. Nachdem er sich einst die Nase hat richten lassen, so versucht sie mir klarzumachen, sei es doch ebenso gut möglich, dass er sich nun neue Hüften hat einsetzen lassen. Ich wende ein, dass sie ungerecht sei. »Warum stürzt er denn dann nie?«, kontert sie. Und mit dieser Frage spricht sie mir letztlich aus tiefster Seele.
    Eines Tages gingen eine armenische Freundin und ich nach einem Aznavour-Konzert ins Künstlerzimmer, um ihm unsere Aufwartung zu machen. Man bat uns herein. Und, statt uns ihm an den Hals zu werfen, vollführten wir eine Art theatralischen Kniefall und nannten ihn »Maestro«. »Oh, ich bitte Sie, hören Sie auf mit diesem Unfug!«, bat er. Denn er hatte just an jenem Abend das Gefühl gehabt, einen schwachen Auftritt hingelegt zu haben. Er war weniger hoch gesprungen als gewöhnlich. »Ich habe Rückenschmerzen«, klagte er. Ja, um ein Haar wäre er auf der Bühne ins Stolpern geraten. Er trug ein Stützkorsett um die Hüften und hob sein Hemd, um es uns zu zeigen. Außerdem schlug er sich gerade mit einem grippalen Infekt herum. Wir hatten es mit Komplimenten zu seinem Talent allgemein versucht. Vergebene Liebesmüh. Mit fünfundachtzig war er jenseits jeder falschen Bescheidenheit. Seine Fähigkeit, die Liebe mit schönen Worten zu besingen, war ungebrochen, so weit, so gut. Das wusste er. Dessen war er sich sicher. Weniger sicher war er sich seines Rückens, und er konnte sich auf nichts anderes konzentrieren als auf jene quälenden Schmerzen im Lendenbereich. Tags darauf eilte ich zu meiner Mutter, um ihr die Entdeckung kundzutun, dass sich bei ihm definitiv alles genauso verhielt wie bei ihr, dass er ihr in allem, wirklich in allem ähnlich war, mit den Schmerzen im unteren Rückenbereich, dem orientalischen Schamgefühl, der Würde, den samtweichen Händen, unserer Seele. Und dass er trotz Korsett ebenfalls seine liebe Not hatte, nicht ins Straucheln zu kommen.
    Jedoch all meine Worte waren vergebens, sie konnte sich immer weniger mit jenem Mann identifizieren, der zu einer so bedeutenden Figur geworden war. Schmerzen hin oder her, Korsett hin oder her, er wäre unsterblich.

A ch Gott, ich mache sie

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