Reifezeit
Gedächtnis unterhalten. »Oje, ja das … das lässt mich zunehmend im Stich«, erklärt sie mir. Ich schlage ihr vor, ihr Gehirn einmal anders zu betrachten, nämlich nicht als eine Schatulle, die sich leert, sondern im Gegenteil als eine reich gefüllte Truhe, voll Reminiszenzen an Ereignisse, die ihren Lebensweg gesäumt haben, an Gefühle, angenehme Dinge, ad acta gelegte Episoden, Liebesgeschichten, überwundene Enttäuschungen, herausragende Meilensteine, Überraschungen, geglückte ebenso wie missglückte Abenteuer, Jubelmomente und Erzählungen von anderen. Ich führe ins Feld, dass diese überbordende Fülle in ihrem Kopf, nun, dass ebendiese Fülle der Grund dafür ist, dass sie sich nicht erinnert. Denn in einem solchen Tohuwabohu fände selbst eine Katze ihre Jungen nicht mehr.
Ein Blick, in dem heiße Dankbarkeit zu lesen steht, und doch: »Das alles beschert uns aber noch keine Antwort auf die Frage, wonach es mich gerade gelüstet und was das ist, was mit den Austern zusammenhängt.« Dann ein flüchtig aufblitzender Erinnerungsfunke, und sie fügt hinzu: »Es ist etwas Wertvolles, aber was?« Ich frage, ob es vielleicht ihr Perlencollier sei. Sie schüttelt energisch den Kopf. Ihre zierlichen Fäuste aneinandergepresst wie Boxhandschuhe, sinnt sie mit schier übermenschlicher Konzentration nach. »Mein Gott, das nervt mich vielleicht, dass ich die elementarsten Dinge vergesse.« Und: »Hör zu, ich ruf dich an, wenn es mir wieder einfällt.«
Ich habe bereits den Mantel übergestreift und mich zum Gehen gewandt, als ich vernehme: »Ah, jetzt hab ich’s, nun kommt es mir wieder. Ich habe Lust auf ein Stück Foie gras.« Gänseleber, das war’s also.
I hre Augen, die einmal braun waren, werden immer heller. Rund um den inneren, wässrig gewordenen braunen Kern, der nun ins Bernsteinfarbene hinüberspielt, verbreitert sich der himmelblaue Ring; er gleicht dem Ring eines Planeten, an dem man mit zunehmender Nähe ungeahnte Details gewahrt. Man erklärt mir, dass dies Verblassen der Farbe eine typische Alterserscheinung sei. Umso besser, dass es auch positive Alterserscheinungen gibt. Und was tut sie mit diesen Augen? Sie schaut aus dem Fenster. Verfolgt mit Argusblick, wer in der Apotheke ein und aus geht, erkennt, ob der Blumenhändler gute Laune hat, erspäht mit einer intuitiven Zielsicherheit, die es mit dem besten Feldstecher aufnehmen könnte, ob es Kapuzinerkresse gibt. Sie blättert die Zeitschriften und Magazine durch. Die Stars von einst, nicht wiederzuerkennen, sie bringt sie alle durcheinander. Die blutjungen Celebrities, die sie jedoch nicht kennt, sie bringt sie ebenfalls alle durcheinander. Sie schaut Fernsehen. Sie wäre besser als ich im Bilde über das, was auf der Welt geschieht, wenn sie sich merken könnte, was sie sieht. Sie erklärt gleichsam im Namen ihrer Generation: »Was für ein Segen für die Alten, dass es das Fernsehen gibt.« Mal abgesehen davon, dass es ein wahres Drama ist, wenn ihr die Fernbedienung auf den Boden fällt: Jawohl, wie soll sie ausschalten, wenn sie genug hat von dieser aufgesetzten Heiterkeit? Worauf sie lauert: hitzige Wor tgefechte. Wenn jemand die Fernsehbühne verlässt, ruft sie mich an, gerade als habe derjenige soeben den Raum verlassen, um direkt weiter in mein Zimmer zu gehen. Ganz gleich, um welches Thema es sich dreht, sie liebt es, wenn die Leute sich streiten, dass die Fetzen fliegen. Als Kind fand ich es unerträglich, wenn andere aneinandergerieten. Sie und mein Vater begannen zu schreien, sie machte ihren Gefühlen Luft, indem sie ihm Abscheulichkeiten ins Gesicht spie, und er erhob sich zutiefst entsetzt vom Tisch und ging, um sein Essen zu erbrechen, während ich brüllte: »Hört auf, euch zu zanken! Schluss damit! Hört endlich auf!« Die Kaltschnäuzigkeit, mit der meine Mutter darauf reagierte: »Aber, wir zanken doch gar nicht. Wir diskutieren .« Dasselbe sagt sie mir heute, wenn sich die Leute in einer Fernsehsendung förmlich die Köpfe einschlagen. Und sie, sie sitzt da, ein Stückchen Rahat-Lokum in der Hand, und zählt die Punkte, die jede Seite macht.
Einmal, während eines kurzen Krankenhausaufenthaltes in der geriatrischen Abteilung, stellte sie die Überlegung an, dass der Fernsehapparat im Krankenhaus wohl umso kleiner ausfalle, je älter und schwachsichtiger die Leute seien. Und bemerkte, dass man ihn zudem noch wie eine Überwachungskamera oben an der Decke installiert habe, einer schmutzigen, grauen
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