Reifezeit
Privatleben bis in den letzten Winkel zur Schau gestellt wird, das gesehen, was man gemeinhin nicht zeigt. Und in dieser schwierigen Phase habe ich mein inneres Heil gefunden.
I ch habe Flügel, die ausgebreitet werden wollen. Sie sind riesig, denn ich fördere sie schon so lange in ihrem Wachstum. Ich kann nicht länger leugnen, dass es ausgeprägte mütterliche Impulse in mir gibt, Impulse, die ich sublimiert und in künstlerische Leistungen umgewandelt habe, in dem Glauben, auf diese Weise umfassender zu lieben. In höhere Dimensionen vorzustoßen. Teilweise war ich damit erfolgreich. Meine Arbeit, das Schreiben. Mit meiner Feder mein Brot zu verdienen, war das nicht schon ein erster Ansatz, die Flügel auszubreiten? Wie dem auch sei, ich nehme in letzter Zeit meine eigene Weiblichkeit konkreter und auch bewusster wahr. Ich stelle beispielsweise zum einen fest, dass ich meinen Humor von meinen witzigen Eltern geerbt habe, klar, und erkenne, auch klar, inwiefern er mir immer wieder erlaubt, über mich selbst hinauszuwachsen, aber ich erkenne auch, dass sich dahinter, hinter meinen vielleicht sinnlichen Vorstellungen, verbirgt, dass ich Mutter hätte sein können. Ich habe den biologischen Plan vereitelt. Dabei hätte ich es doch verstanden, ein Kind zum Lachen zu bringen. Und wenn ich noch näher hinsehe, erkenne ich, welchen Wert die erhebenden Erfahrungen der Mutterschaft besitzen – ich, der sie nie gefehlt haben, ich, die ich jetzt zu alt dafür bin. Tatsache ist, dass ich einen Trost in der Hand habe. Fürsorglich sein. Mir erscheint das, was mit dem Kindsein zusammenhängt, nun in einem positiveren Licht als zuvor. Ich meinte das Spiel zu verabscheuen. Ich liebe es. Den Speichel, die sinnlichen Freuden. Und ich frage mich, wohin mich meine Begeisterung noch führen wird, wenn meine Mutter einmal nicht mehr da ist.
Sie hat uns zu etwas Höherem als der reinen Körperlichkeit erzogen. Das ist so. Gegenwärtig vertraut sie mir ihren eigenen Körper an. Auch das ist Fakt. Selbst mein Bruder, über alles erhabenes Idol meiner Kindheit, der mythisch überhöhte Ältere, dem die ganze Welt ihr Begehren zu Füßen legte, räumt ein, dass er wie ich den anderen entfremdet worden ist. Wir waren zu abgehoben erzogen. Wir haben sie so verehrt. Wie werden wir nur zurechtkommen? Er, der die Kräfte seiner Mutter dahinschwinden sieht und der genau wie ich leidet. Er klagt bereits über Schmerzen im Rücken. Ist bereits voller Angst, nachdem er entsetzt festgestellt hat, dass er bis fünfundsechzig wird arbeiten müssen. Ist völlig verloren, wenn sich das Leben einmal nicht von seiner sonnigen Seite zeigt. Ist bei der geringsten Unannehmlichkeit wie gelähmt. Er sehnt 2012 herbei, weil er mit Erleichterung gelesen hat, dass in dem Jahr die Welt untergeht. Er wird von Albträumen geplagt, die so schlimm sind, dass er sie nicht zu erzählen wagt. Er vergeht förmlich vor Hemmungen. Bei unseren gemeinsamen Krankenhausbesuchen schiebt er mich vor, mit der Begründung, dass ich mich besser ausdrücken könne, und bleibt stumm hinter mir stehen, peinlich berührt, dass wir der Wissenschaft nichts als alte Damen zu bieten haben. Dabei trägt er ein Lächeln auf den Lippen, ohne sich eine Vorstellung davon zu machen, dass er ebenfalls jenes göttliche Lächeln besitzt. Er begreift gar nicht, was für ein Prachtkerl er immer noch ist. Denn wichtiger als seine Eroberungen ist ihm seine Mutter und die Liebe, die es sich nicht ziemt beim Namen zu nennen.
In letzter Zeit versucht sie, uns von unserem Gefühl der Verpflichtung zu entbinden. Mir legt sie dringend ans Herz, den Kontakt mit Männern zu suchen: »Das wird dir guttun.« Der Satz, der einem die ganze Welt erschließt.
D er Tag, an dem ich Hals über Kopf aus einem Meeting hinausstürze. Anruf meiner Mutter, sie ist gerade im Begriff, zu Boden zu rutschen. Sie sagt: »Ich halte mich noch, ich habe den Ärmel meines Pullovers in der Seitenlehne meines Sessels eingeklemmt, aber komm, komm schnell …« Irgendjemand warnt mich: »Erkennst du nicht, dass das Erpressung ist?« Es gibt solche Ignoranten. Das ist keine Erpressung, das ist das Alter. Wie eine Besessene rase ich durch den Bois de Boulogne und überfahre dabei rote Ampeln, als sei ich höchstselbst ein Rettungswagen, der das Schicksal meiner Mutter an Bord hat. Die Risiken, die ich dabei eingehe, die Konzentration, die es erfordert, so schnell zu fahren und sich zwischen den anderen Autos durchzuschlängeln,
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