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Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Titel: Reise zum Rand des Universums (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Widmer
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den Steilhang hinuntersprang und endlich zwischen Kriecharven verschwand, nahe bei der Lonza schon. – Vom vierten oder fünften Weißenrieder Sommer an war auch mein Cousin Thomas da. Er war ebenfalls älter und trug immer die Hosen, von denen ich wusste, dass ich sie in einem Jahr tragen musste. So wie er sich ansehen musste, wie ich, sein Erbe, in seinen ehemaligen Gewändern ging. (Keine Ahnung, woher er die Hosen und Pullover hatte, die, wenn sie bei mir anlangten, schon recht heruntergekommen waren.) Meine Eltern – nein, das war nur meine Mutter – sagten mir jeden Tag, wie vorbildlich Thomas durchs Leben schreite, und er musste sich zu Hause anhören, was für ein lieber Kerl ich sei. Immer fertigessen, freudig die Zähne putzen, all das. Er wohnte in einem Haus am Dorfende, das viel schöner als unseres war. Mit ihm Tante Norina und Onkel Emil, den alle Hä nannten. (Er hieß Emil Häberli.) Ja, all jene, die auch in meinem Winterleben die Hauptrolle spielten, waren nun in Weißenried. Sogar meine Patentante Hildegard, deren Gelächter, Lonza hin oder her, durchs ganze Dorf dröhnte. Ihr Gelächter und ihr Husten, denn sie war Kettenraucherin. – Ich lernte, Bergtouren zu machen, die schon mehr als Spaziergänge waren (Norina und Hä waren genauso angefressene Bergfexe wie Coni Beck das gewesen war). So kam ich mindestens bis aufs kleine Hockenhorn und kann mich an ein Gewitter erinnern, in das wir auf dem Rückweg von irgendeiner fernen Alp gerieten. Es war eines jener Unwetter der Alpen, die auch einem Erwachsenen – gerade einem Erwachsenen – Schauer der Angst den Rücken hinunterjagen konnten. Meine Mutter ließ mich sofort im Stich, das heißt, sie rief »Rennen!« und sauste los. Hinter ihr, in immer größerem Abstand, Hans Schudel und endlich ich, von Anfang an verloren in diesem Rennen um unser aller Leben. Es regnete nun wie aus Kübeln, die Welt war schwarz, und aus der Schwärze heraus fegten Blitze, rings um uns einschlagend. Ganz tief unten auf dem Schlängelweg sah ich meine Mutter, den Hals panisch vorgestreckt, über ihr, und näher bei mir in der Gegenrichtung rennend, Hans. Ich weinte nicht, ich sprang mit erstarrtem Herzen über Steine und Heidelbeerstauden, stur auf Kurs bleibend zwischen den Blitzen. Zu Hause war ich nass bis auf die Knochen. Meine Mutter kochte, glaube ich, einen heißen Tee. – In Weißenried verliebte ich mich auch zum ersten Mal, und zwar in die Hirtin der Ziegen, die wie ich etwa fünf Jahre alt war und ihre Herde jeden Tag an unserm Haus vorbeitrieb. Bald ging ich mit ihr, wie sie mit einem Stecken in der Hand. Wir sprachen nicht miteinander, weil wir uns die paar Male, als wir es versucht hatten, nicht verstanden hatten. Es war nicht nur die Lonza, das war mir klar. Sie fistelte wie ein himmlischer Engel, und ich glotzte blöd. Mein Onkel Hä erzählte mir, da wo er arbeite – das war, mitten im Krieg, der Nachrichtendienst der Schweizer Armee –, wenn er da eine Meldung übermittle, für deren Verschlüsselung keine Zeit mehr bliebe, nach Berlin zum Beispiel, dann nehme er immer seinen Walliser. Einen Hilfsdienstler aus Ferden. Den verstünde niemand, er selber nicht, kein deutscher Überwacher und auch nicht der Botschafter am andern Ende des Drahts, der ein Berner sei. Hä lachte fröhlich. Ich hatte zwar kein Wort verstanden, lachte aber auch, getröstet. – Einmal kriegte ich ein Glas Milch, das die Mutter meiner Freundin aus einer Ziege molk. Ich hasste Milch, aber diese eine schmeckte wie das Paradies. Ich kam strahlend vor Glück nach Hause, mit einem weißen Rand über der Oberlippe. – Meine Freundin trug Kleider wie eine Erwachsene. Rock, Bluse, Kopftuch, nackte Füße, die zuweilen in riesigen Bergschuhen steckten, die wohl ihrem Vater oder einem großen Bruder gehört hatten.
    Eines Tages ging ich das letzte Mal den Weg nach Goppenstein hinunter. Das war 1947. Ich wurde längst nicht mehr von meinem Papa im Rucksack getragen, sondern hatte einen eigenen, in dem meine Siebensachen waren, zum Beispiel der Stoffneger, den ich liebte wie keinen anderen Menschen. Am Hals meines Vaters hing jetzt meine Schwester, obwohl auch sie schon fünf war und – so dachte ich jedenfalls – allein gehen konnte.
    ZUR Welt kam ich in Basel, irgendwann in der Nacht. Halb eins, fünf Uhr früh. Ich hatte einen Kopf wie eine Birne, weil ich mit einer Zange ins Freie befördert werden musste. Wenn mein Vater es mir erzählte, schüttete er sich aus vor

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