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Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Titel: Reise zum Rand des Universums (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Widmer
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und die Becks mieteten sich in einem schwarzverwitterten Holzhaus ein, dem größten und schönsten des Dorfs in der Tat, in der Wohnung im ersten Stock, deren Fenster, wie alle Fenster im Tal, so klein waren, dass sie kaum die Köpfe hindurchstecken konnten. Unter ihnen toste der Bach, die Lonza. Die Lonza war so laut, dass sie sich anbrüllen mussten, wenn sie beim Frühstück um die Butter baten. Es war ein ununterbrochenes unerbittliches Tosen. Meine Eltern brüllten, die Becks brüllten, aber nach ein paar Tagen hatten sie sich daran gewöhnt, brüllend nach dem Salz zu fragen oder einen Witz zu erzählen. (Conrad Beck war ein Meister des Witze-Erzählens.) Die Einheimischen brüllten nicht. Sie hatten über viele Generationen hin eine Technik des Sprechens entwickelt, mit deren Hilfe sie besser als meine Eltern und der Rest der Welt mit dem Getöse fertig wurden, das sie gar nicht mehr hörten. Sie sprachen laut, das schon. Aber vor allem fistelten sie mit hohen Kopfstimmen, die weit besser durch das Lonza-Tosen drangen als die Baritone meines Vaters und Conis. Auch die Frauen sprachen mit gepressten Lauten, die sie hoch oben im Kopf bildeten. Da waren die Stimmen meiner Mutter und Conis Frau beinah schon Bässe dagegen. Weit wirkungsloser jedenfalls gegen die Lonza als die der Einheimischen. – Alle im Tal trugen schwarze Gewänder, und die Frauen Kopftücher. In Blatten gab es keinen Menschen, der nicht schwarz war.
    Die Lonza, ihr Lärm, führte auch dazu, dass die beiden Paare – frisch verheiratet, sehr verliebt – in den Nächten, obwohl die Wände zwischen ihren Schlafzimmern dünne Fichtenbretter waren, keine Rücksicht aufeinander nehmen mussten. So laut wie die Lonza konnte kein Liebespaar sein. So tosten Anita und Walter im einen Zimmer, Coni und seine Frau (wie hieß sie nur?) im andern, ohne die geringste Scham und ohne einander zu hören. Selbst Anita verstand ja kaum, was Walter ihr ins Ohr brüllte. »Ich liebe dich!« – Ich wurde aber nicht in diesen Nächten gezeugt – da waren sich meine Eltern später sicher –, sondern an einem einsamen Nachmittag, an dem der bergwilde Coni sich mit seiner Frau (Tildi?) auf den Weg aufs Hockenhorn oder den Petersgrat gemacht hatte und meine Eltern (mein Vater stieg auf keine Berge; meine Mutter war an jenem Tag gerne mit ihm solidarisch) zuerst ein bisschen durch die hellen Wiesen bummelten und sich dann, wieder im Haus, mit einer wortlosen Selbstverständlichkeit aufs Bett legten und sich küssten. Jetzt konnte mein Vater so laut brüllen wie er wollte – kein Coni, keine Anni (ich glaube, sie hieß Anni) weit und breit –; denn wenn die Lonza auch tatsächlich alle andern Geräusche zunichtemachte, so hörte mein Vater doch sich, und damit hörten ihn, in seiner Vorstellung, alle. Anita, ich weiß nicht, ob sie laut war oder still. – Am Abend kamen Coni und Anni strahlend vor Glück zurück (sie hatten nur auf die Lötschenlücke gewollt, ein Spaziergang für sie, waren aber hinter der Favleralp in einem Arvenwäldchen steckengeblieben und hatten dort den halben Tag verbracht), und meine Mutter kochte Spaghetti, die, wie manches andere inzwischen, aus der fernen Welt ins Tal gebracht und in einem Laden, über dessen Tür »Handlung« stand, verkauft wurden. Billiger, nicht teurer als im Unterland, sonst hätte sie sich keiner der Lötschentaler leisten können. Zwar kamen sie inzwischen auch nicht mehr um die Geldwirtschaft herum. Aber eigentlich war ihnen ein Tauschhandel der alten Art immer noch lieber. Sie wussten sehr genau, was ein Korb voll Kartoffeln wert war. Einen großen Krug voll Milch oder zwei Ballen Butter. – Die Handlung war auch das Postamt und mein Vater der Einzige, der regelmäßig Post erhielt. So regelmäßig, wie es die Maultiere eben zuließen, denen der Postsack in Goppenstein oben auf das gepackt wurde, was sie eigentlich transportierten. Schaufeln, Sensenklingen, Spaghetti. – Auch die Zeitung, die National-Zeitung aus Basel, kam mit einer Woche Verspätung.
    Das Lötschental wurde auch für mich der Ort, in dem ich meine Sommer verbrachte. Ich hieß ja auch der Lötschi. »Lötschi, trink endlich deine Milch!« (Später verbat ich mir diesen Namen und wollte so gerufen werden, wie ich hieß. Nun rief mich mein Vater »Uti«, und später »Gütterli«.) Wir waren jetzt nicht mehr in Blatten, sondern – hoch über dem Talboden – in Weißenried, einem noch viel kleineren Weiler mit einer Handvoll verwitterten

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