Renner & Kersting 02 - Mordswut
Selbst im schlimmsten Getümmel behielt sie die Nerven und reagierte gelassen. Ich kann mir nichts vorstellen, was sie aus dem Gleichgewicht bringen könnte. Es passt nicht zu ihr, weder zu ihrem Temperament noch zu ihrem ganzen Charakter. Sie wirkt immer so schrecklich brav, so typisch kleinbürgerlich, wenn du verstehst, was ich meine.«
Ali nickte. „Und nun?«
„Keine Ahnung!«
42
Am Freitag musste Helga in der großen Pause Aufsicht führen. In einer Ecke des Hofes fand sie Britta, umgeben von ihren Freundinnen. „Was ist denn los?«
„Britta hat Angst. Eben war da wieder jemand am Zaun.«
So konnte es nicht weiter gehen. Helga wollte die Gefahr nicht verharmlosen, aber Zureden allein würde nicht genügen. Was tun?
„Ich habe eine Idee«, sagte sie deshalb zu dem Kind. „Du erinnerst dich doch an die Mama von Daniel, die am Dienstag am Zaun gestanden hat?« Britta nickte. „Nun, die stand dort, weil Herr Raesfeld ihr verboten hat, in die Schule zu kommen. Sollen wir beide gleich mal zum Rektor gehen und ihn bitten, deinem Papa auch so einen Brief zu schreiben? Dann muss der Herr Soltau draußen bleiben und darf die Schule und den Schulhof nicht betreten. Und du kannst ruhig in die Pause gehen. Einverstanden?«
Britta strahlte. „Aber«, sagte sie dann, „mein Papa heißt nicht Soltau.«
„So? Wie heißt er denn?«
„Kowenius.«
Helga traf der Schlag. Fast wäre sie gefallen, so weich wurden ihre Beine plötzlich. Sie tastete blind um sich und fand die Schulter eines der Mädchen, auf die sie sich stützte. „Ist dein Papa etwa Arzt?«
„Ja, woher weißt du das?«
Ihr schwindelte. „Reiß dich zusammen!«, befahl sie sich selbst. „Nicht vor den Kindern.« Mühsam taumelte sie auf eine Bank zu, die am Rande des Hofes stand und ließ sich darauf nieder. Allmählich setzte ihr Denkapparat wieder ein. Der Anruf. Am Mittwoch. Andrea hatte es gewusst. Und die Soltau auch. Helga atmete tief durch. Einmal, zweimal, noch einmal. Sie spürte, wie das Zittern langsam nachließ. Arme Andrea. Plötzlich zu erfahren, dass der Mann, den sie liebte und heiraten wollte, seine Tochter missbraucht hatte, das war ein Schlag, der bei jedem Gefühle freisetzen würde, erst recht bei einer Lehrerin, welche die Probleme des Mädchens aus eigener täglicher Anschauung kannte. Dazu die extrem religiöse Erziehung. Eine Lösung der Verlobung war ausgeschlossen. Das hätte gleichzeitig die Trennung von ihren Eltern bedeutet. Und sicher hätte Andrea sich selbst als die Hure gesehen, als die sie schon vorher von ihrer Mutter beschimpft worden war. Mein Gott, was für ein Schlag musste das gewesen sein! Und niemand in der Schule hatte ihr etwas angemerkt, als sie gegangen war. Helga hielt es nicht aus. Mit langen Schritten rannte sie über den Hof, ohne nach rechts oder links zu sehen. Sie hörte weder die Rufe der Schüler noch bemerkte sie deren Versuche, sie festzuhalten. Für Helga war die Frage nach dem Täter keine Frage mehr. Alles passte zusammen. Auch, dass Andrea im Krankenhaus lag und ihren Schock nicht überwinden konnte. Wie sollte sie?
Vier weitere Stunden Unterricht würde sie nicht verkraften. So ging sie ins Lehrerzimmer und bat Elli, die Kinder auf verschiedene Klassen zu verteilen.
„Du bist ja vollkommen blass! Was ist los? Hast du etwa deinen Migräneanfall von gestern noch nicht überwunden?«
„Vielleicht.« Helga hatte noch nie unter Migräne gelitten, doch gestern Morgen war ihr das als plausibelste Entschuldigung erschienen.
„So wie du aussiehst, gehörst du ins Bett. In Ordnung, ich kümmere mich um deine Klasse. Nach der Pause hätte ich eine Verwaltungsstunde, und danach teile ich die Kinder auf die Parallelklassen auf. In der letzten Stunde hättest du die 2c. Was machen wir da?«
„Können wir nicht anrufen, dass die Kinder eher kommen?«
„Ich denke, das geht. In Ordnung, so machen wir’s. Gute Besserung.«
Helga fuhr schnurstracks zu Frau Soltau. Sie nahm einem Auto, das von rechts kam, die Vorfahrt, bog viel zu schnell um die Ecke und dass die Ampel auf rot wechselte, wurde ihr erst bewusst, als sie schon mitten auf der Kreuzung war. Sie kannte die Adresse, seitdem Britta sich zum ersten Mal geweigert hatte, allein heim zu gehen.
Kaum wurde die Wohnungstür geöffnet, konnte Helga sich nicht mehr zurückhalten. „Sie haben es gewusst«, schleuderte sie der Frau anklagend entgegen. „Sie wussten, wen Andrea, Frau Michalsen, heiraten wollte und haben ihr alles
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