Renner & Kersting 02 - Mordswut
rennen, ist niemand. Enttäuscht rief sie Ali an. Die stand immer noch vor der Wohnung der Hellwitz.
„Ich komme zur dir«, sagte Helga. „Wenn wir Glück haben, packt sie ihre Sachen. Denn wenn sie nicht die Täterin ist, weiß ich nicht weiter.«
Helga parkte direkt hinter Ali, was heute Morgen kein Problem war. Als sie die Tür zu Alis Auto öffnete, musste sie erst einmal husten. Das Innere des Wagens ähnelte einer Räucherkammer. Sich selbst überwindend nahm sie Platz. „Wie hältst du es in diesem Gestank bloß aus?«
„Versuch mal!« Auffordernd hielt Ali ihr die Packung hin. Helga schüttelte den Kopf. Vorsorglich hatte sie ein paar Bananen eingepackt, gegen Langeweile einerseits, gegen möglichen Hunger andererseits. Sie wusste nicht, wie lange sie unterwegs sein würden. Doch in diesem Rauch mochte sie nichts essen, auch wenn ihr bald langweilig wurde. Endlich kam die Hellwitz heraus, ging zur Bushaltestelle und wartete. „Die wird doch nicht mit dem Bus flüchten wollen?«
„Oder zur Arbeit fahren?«
Nach wenigen Minuten erschien der Bus. Solange es keine Haltebuchten gab, war es einfach, ihm zu folgen und zu beobachten, wer ausstieg. Später wurde es schwieriger. Als die Hellwitz endlich den Bus verließ und zu Fuß weiter ging, war es ganz in der Nähe der Praxis. „Scheiße!« So fluchte Helga selten.
„Was nun? Weitermachen oder abbrechen?«
„Weitermachen! Sie ist unsere größte Hoffnung, Andrea zu entlasten.«
Bis Mittag tat sich nichts. Helga und Ali langweilten sich trotz Lokalfunk und Rundschau. Ali hatte immerhin ihre Zigaretten, die ihr die Zeit verkürzten. Helga saß, innerlich schimpfend, daneben und ertrug mit Leidensmiene den Rauch. Die meiste Zeit schwiegen sie. Weder mochte Helga über Klaus, noch Ali über Herbert reden. Beide bedrückte die Möglichkeit, dass auch die Hellwitz unschuldig sein konnte.
„Was hältst du von Bergedorf als Täter?«, unterbrach Helga plötzlich das Schweigen.
Ali zuckte die Schultern. „Was wir von ihm gehört haben, reicht als Motiv meines Erachtens nicht aus.«
„Hm, scheint mir auch so.«
Gegen 13.30 Uhr erschienen die beiden jüngeren Helferinnen und kurze Zeit später auch die Hellwitz zur Mittagspause. Wieder folgten Ali und Helga dem Bus. Die Hellwitz fuhr in die Stadt und stieg dort um. Helgas und Alis Freude währte nur kurz. Der neue Bus fuhr nicht zum Bahnhof, sondern in die entgegengesetzte Richtung. Und wie fast erwartet, stieg die Hellwitz an der Feithstraße aus und ging Richtung Hoheleye zum Polizeipräsidium.
„Fehlanzeige! So ein Mist. So eine verfluchte Scheiße!«
Sie holten Helgas Auto ab und fuhren hintereinander in die Innenstadt. Bei Tigges mussten sie sich von dem Reinfall erst einmal erholen.
„Ich brauch was Süßes, Nervennahrung«, stöhnte Ali. „Was nun?«
Während sie vor Kaffee und Kuchen saßen, kam Ali auf ihre erste Vermutung zurück. „Und wenn es nun doch Andrea war? Sie hatte die Gelegenheit.«
„Aber kein Motiv. Wenn ich wenigstens die Ahnung eines Motivs hätte. Da ist nichts. Absolut gar nichts.«
„Was könnte Andrea so schockieren, dass sie ausrastet und einen Mord begeht?«
„Habe ich dir eigentlich schon von ihren Eltern erzählt? Sie sind entsetzlich religiös. Nein, du brauchst nichts zu sagen«, Helga winkte mit der Kuchengabel ab. „Ich weiß, wie viel du von Religion hältst und dass du regelmäßig zur Kirche gehst. Aber euch kann man nicht vergleichen. Die beiden sind einfach nur furchtbar. Mit Sicherheit wurde Andrea in ihrer Kindheit tüchtig indoktriniert. Aber sie hat sich zur Wehr gesetzt, hat sich, gegen den Willen der Eltern, für den Mann entschieden, den sie liebt. Das spricht sowohl für eine gewisse Distanz zu den Überzeugungen der Kindheit als auch für ein gesundes Selbstvertrauen. Außerdem ist sie nicht der Typ, der rein gefühlsmäßig handelt. Weißt du, wenn die Kolleginnen mal Dampf ablassen, kann man genau erkennen, wer emotional auf Situationen reagiert und wer vom Verstand gesteuert wird. Wenn ich an unsere Klassen denke, wo sich jeden Tag unzählige Möglichkeiten bieten, auszurasten und die Kinder anzubrüllen, da reagierte sie absolut cool. Sie hat sich völlig im Griff, und um ihre Nerven habe ich sie beneidet. Meine Güte, wenn ich daran denke, wie oft ich losbrülle, wenn ich jemanden zum hundertsten Male ermahnt habe, ruhig zu sein und aufzupassen und dann immer noch gequatscht, gezankt, mit Gegenständen geworfen und gegessen wird.
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