Repuestos: Kolonie der Verschleppten (German Edition)
fragen. Worum geht es?“
„Ja. Es heißt doch, wer mit zwanzig nicht Kommunist ist, hat kein Herz, wer es mit fünfzig immer noch ist, keinen Verstand. Nun meine Frage: Ist man mit zwanzig ein anderer Mensch als mit fünfzig?“
„Nein. Mit zwanzig weiß man halt eben ein paar Dinge weniger. Zum Beispiel, wie schnell man fünfzig wird.“
„Ach so. Und mit fünfzig – weiß man da wenigstens, wie schnell man siebzig wird?“
Edmund musste ein Dutzend Schritte lang überlegen.
„Nein“, sagte er, „man ist immer erst hinterher gescheit.“
„… oder aber man … Hör mal!“ Edmund grapschte Gerd am Ärmel. „Was ist denn da los?“
Hinter ihnen hörte man laute Stimmen, Geschrei. Sie blickten zurück, wurden Zeugen einer Rauferei zwischen zwei Spendern, die das Streitgespräch in der Bücherstube auf dem „Heim“-weg fortsetzten. Man konnte sie nicht erkennen, so sehr waren sie ineinander verkeilt. Da eilten auch schon von der Sperbergasse her vier Betriebsschützer auf die Kampfhähne zu, rissen sie auseinander und führten sie ab. Gerd hielt im Gehen inne, sein Gesicht war weiß wie frischer Schnee. Edmund fragte: „Meinst du …?“ Gerd nickte und sagte: „Idioten!“ Nichts weiter. Ob er die Raufbolde meinte, die Betriebsschützer, die Schlächter oder die Obrigkeit, konnte man sich aussuchen. Er jedenfalls sprach an diesem Abend kein Wort mehr.
Auf seinem Zimmer überkam Edmund heftiges Zittern bei der Vorstellung, was den beiden Burschen bevorstand oder soeben mit ihnen geschah – knapp dreihundert Schritte von seinem Zimmer entfernt. An Schlaf war in dem Zustand nicht zu denken, an Flucht umso mehr. Er bereitete seine Schwarzpaste vor, kippte die gehamsterten Kohletabletten ins zugestöpselte Waschbecken und begann, sie zu zertrümmern. Als Mörser diente der Griff des Rasierpinsels. Seine Erregung hatte sich noch nicht gelegt. Zwei junge Kerle in der Konservierung – so sicher wie das Amen in der Kirche – zum Schächten. Es ging ihm unter die Haut, unter die Gänsehaut.
Die Kohletabletten erwiesen sich als sehr mürbe, ließen sich leicht zu Pulver zerdrücken. Den Zahnbecher als Schaufel benutzend, füllte er das Material in die Tüte zurück und deponierte es im Badezimmerschrank bei den Materialien, die noch hinzugefügt würden, wenn der Tag kam.
Waschbecken und Rasierpinsel ließen sich mit heißem Wasser und Shampoon leicht reinigen, aber Haut und Nägel musste er lange schrubben, ehe er allen Kohlestaub aus Poren und Falten entfernt hatte. Wozu zum Kuckuck habe ich mir Gummihandschuhe organisiert, schimpfte er sich aus. Er fiel hundemüde aufs Bett und schlief den Schlaf der Erschöpften durch bis zum Wecken.
Edmund jonglierte sein Tablett mit dem Frühstück zu seinem Platz. Er hatte sich verspätet. Ringsum verhaltenes Grüßen, die Stimmung war noch bedrückter als sonst. Der Stuhl neben ihm blieb leer. Hugo Lehmann – Bistrobetreiber in West – war nicht mehr am Leben. Er war einer der beiden Raufbolde der vergangenen Nacht gewesen. Es hatte sich in Süd wie ein Lauffeuer herumgesprochen. „Der andere war Peter Straubing von Tisch Nummer neun“, sagte Nicole. Astrid König wischte sich die Augen.
„Ich verstehe unseren Herrgott nicht“, klagte Dieter Schuster, „wie kann er das alles zulassen?“
„Denkst du, es gibt jemanden, der ihn versteht?“, fragte Edmund.
„Ich hatte fest an Gott geglaubt. Inzwischen habe ich meine Zweifel, ob es ihn überhaupt gibt.“
„Wenn es einen Gott tatsächlich gibt, dann ist er ein gottverdammter Schweinehund!“, wütete Egon Fuchs.
„Das haben schon andere vor dir festgestellt“, räsonierte Ilse Maibach.
Zum Beispiel, erinnerte sich Edmund, der Held in 08/15 von Hans Hellmut Kirst. Er hatte das Buch damals nicht zuklappen können, hatte es in einem Rutsch durchgelesen und da war die Nacht zu Ende gewesen. Eine Amsel im Günthersburgpark hatte das Erwachen des neuen Tages begrüßt. Das Lied einer Amsel zu hören – war er sich damals solch eines Glückes bewusst gewesen?
***
Zu der Zeit, da Rehbein im Taxi zum Krakauer Flughafen fuhr, stand Reinhard Kellermann seit halb fünf schon mit Otto in der Eckenheimer Landstraße für den kaum anzunehmenden Fall, dass der neue Geschäftsführer, Robert Bosetzky, ausgerechnet heute die Blumenboutique vor Feierabend verlassen sollte, denn sie durften ihn auf keinen Fall verpassen. Sie warteten dem Friedhof schräg gegenüber, gut versteckt hinter dem
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