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Repuestos: Kolonie der Verschleppten (German Edition)

Repuestos: Kolonie der Verschleppten (German Edition)

Titel: Repuestos: Kolonie der Verschleppten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marianne Reuther
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kannst doch überhaupt nicht wissen, was hier los war fünfundvierzig. Zwischen Trümmern, barfüßigen Kindern, bettelnden Krüppeln auf Krücken, die sie sich selbst aus Bauschutt zusammengenagelt hatten. Und du hast keine Vorstellung davon, wie es sich lebt in Löchern unter eingestürzten Häusern, mit knurrendem Magen vor leeren Töpfen, unterm Zepter der Sieger – selbstgerechte, vollgefressene Wänste waren das, die wahllos Hinrichtungen abgemagerter Männer und Frauen anordneten. Wie ein Marschall Schukow eine halbe Million deutscher Frauen und Kinder töten ließ. Oder hast du eine Ahnung von dem Damoklesschwert über Millionen unschuldiger Bürger, den Spruchkammerverfahren ausgesetzt mit Richtern, die nicht etwa Juristen waren, sondern Straßenkehrer, Metzger, Ärzte, Schuster, Müllmänner, Banker, Arbeiter – Hunderttausende Urteile, gefällt von unqualifizierten Laien, berufen aufgrund ...“
    „Auf rot-rotem Banner“, schmetterte Franz Gerschpacher dazwischen, „mit Stalin und Lenin, mit Sichel und mit Hammer, ziehn sie durch Berlin ...“
    „Halt die Klappe!“, rief jemand und Georg fuhr fort:
    „Dazu verurteilten Militärgerichte der Besatzer Tausende unschuldiger Menschen aus der Bevölkerung, über neunhundert davon zum Tode, aus reiner Willkür und Siegerlaune! Und das alles mit dem Auschwitz-Vulkan im Nacken, dem Holocaust, den man uns plötzlich vor die Nase setzte, der neunzig Prozent des rundum gepeinigten Volkes wie ein Keulenschlag traf, wir alle waren …“
    „… erbärmliche Idioten!“, schnitt vom Tisch Nummer eins her eine schrille Stimme Georg Hahn das Wort ab, die seine überbietend. Edmund erkannte Ute auf Anhieb.
    „Ich hör immer nur Holocaust, noch nie erwähnte je ein Mensch im Klageton den Holodomor, dem Anfang der Dreißiger grad so viele Ukrainer zum Opfer fielen wie im Krieg Juden dem Holocaust. Und überhaupt, fünfzig Millionen sind im Zweiten Weltkrieg zu Staub geworden, siebenundvierzig Millionen davon werden kaum erwähnt und immer nur die Handvoll Juden hervorgehoben. Ihre Dezimierung bedeutete wahrlich für die Menschheit keinen Verlust …“
    „Schweig oder ich riskier die Konservierung!“, rief eine heisere Stimme. Das scherte sie nicht, sie wurde nur noch lauter:
    „Hast du – habt ihr – hat überhaupt jemand schon mal darüber nachgedacht, wie es kommt, dass sie seit eh und je aller Welt so verhasst sind? Dass keiner sie haben will? Sie selbst nicht mal einander? Da muss es doch einen Grund für geben! Wie auch immer, Auschwitz ist bei allem Geschrei doch nur eine Bagatelle angesichts …“
    Bei ihren Worten „keinen Verlust für die Welt“ war empörtes Murmeln durch die Reihen gegangen, nun aber erhob sich tobender, von grellen Pfiffen begleiteter Protest, den die Rednerin mit kreischender Stimme übertraf:
    „Hitlers handfestes Verbrechen war, die Weltrevolution im Keim zu ersticken. Kurz vor ihrem Erblühen. Fünf Minuten vor zwölf hat das Arschloch alles kaputt gemacht mit seinem Präventivschlag auf Russland. Ohne den hätte die große Revolution in Europa Fuß gefasst, der Marxismus sich von hier aus wie ein Schutzschirm über den Globus verbreitet wie der Guss über die Erdbeertorte und wir alle lebten froh und heiter nach dem Kommunistischen Manifest. Wie im Paradies, sag ich euch! Und so was wie Repuestos wäre nie möglich geworden.“
    In den Tumult hinein schmetterte Franz Gerschpacher:
    „Morgenluft, Morgenduft, rot-rot Berlin, rot wie Rosa Luxemburg, Stalin und Lenin ...“
    Sie schrien und brüllten kreuz und quer, Pros und Kontras schwirrten durch den Saal, bis Adalbert Giebler mit scheppernder Lache, so als ob ein mit Steinen halb voll gefülltes Blechfass die kantschen Kaskaden herabrolle, alles übertönend zum Schweigen brachte und losdonnerte:
    „Du bist doch mittendrin in deinem Paradies, was willst du mehr? Wir alle hier sind mittendrin. Die Vorstellungen deines Marx sind perfekt erfüllt! Seinem Manifest getreu führen wir ein Leben ohne Sorgen, ohne Bindung, ohne Verantwortung, ohne lästiges Eigentum. Bilden keine Familien, vögeln nach Lust und Laune kreuz und quer, kümmern uns um nichts, Vater Staat – pardon – Bruder Repuestos lenkt, denkt, übernimmt sogar unsere Kinder. Wir müssen uns nicht um sie kümmern und auch sonst um nichts. Leben wie die Maden im Speck, in Luxus und im Müßiggang. Jeder Tag ist ein Geschenk! Was hier vollzogen wird, ist der real existierende Marxismus, Herzchen! Mein Gott,

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