Requiem (Amor-Trilogie) (German Edition)
legt mir die Hände auf die Schultern. »Ich werde nicht wieder weglaufen«, sagt er.
»Das sollst du auch nicht«, sage ich.
Seine Finger erreichen meine Wange und einen Moment schmiege ich mich an seine Handfläche, lasse den Schmerz der letzten paar Monate aus mir hinausfließen, lasse zu, dass er meinen Kopf zu sich dreht. Dann beugt er sich vor und küsst mich: sanft und vollkommen, seine Lippen streifen meine gerade so, ein Kuss, der Erneuerung verspricht.
»Lena!«
Bei Gracies Ruf löse ich mich von Alex. Sie ist aufgestanden, zeigt auf die Grenzmauer, und hüpft aufgeregt auf und ab. Ich drehe mich um. Tränen verschleiern meinen Blick, ich sehe die Welt wie durch ein Kaleidoskop – Farben klettern die Mauer hoch und verwandeln den Beton in ein Mosaik.
Nein. Keine Farben: Menschen. Menschen strömen auf die Mauer zu.
Mehr noch, sie reißen sie ein.
Mit lautem Triumphgeheul schwingen sie Hämmer und Teile des zerstörten Gerüsts oder kratzen mit bloßen Händen und nehmen die Mauer Stück für Stück auseinander, durchbrechen die Grenzen der Welt, wie wir sie kennen. Freude wallt in mir auf. Grace rennt los; auch sie wird von der Mauer angezogen.
»Grace, warte!« Ich will ihr nach und Alex nimmt meine Hand.
»Ich finde dich«, sagt er und sieht mich mit den Augen an, an die ich mich erinnere. »Ich werde dich nicht wieder fortlassen.«
Ich wage es nicht zu sprechen. Stattdessen nicke ich in der Hoffnung, dass er mich versteht. Er drückt meine Hand.
»Geh«, sagt er.
Also gehe ich. Grace ist stehengeblieben, um auf mich zu warten. Ich nehme ihre dünne kleine Hand und wir rennen: durch das Sonnenlicht und den verbliebenen Rauch, durch das Gras am Ufer, das zu einem Friedhof geworden ist, während die Sonne ihren unbeteiligten Lauf fortsetzt und das Wasser nichts weiter reflektiert als den Himmel.
Als wir uns der Mauer nähern, entdecke ich Hunter und Bram, die schwitzend und braun gebrannt nebeneinanderstehen und mit langen Metallrohren auf den Beton einschlagen. Ich sehe Pippa, die auf einem noch übrigen Mauerstück steht und ein leuchtend grünes T-Shirt schwingt wie eine Fahne. Ich sehe Coral; entschlossen und schön verschwindet sie immer wieder aus meinem Blickfeld und taucht dann wieder auf, während die Menge um sie herum wogt und wabert. Einen Meter entfernt ist meine Mutter mit einem Hammer zugange, den sie leicht und locker schwingt, so dass es aussieht wie ein Tanz: diese harte und muskulöse Frau, die ich kaum kenne, eine Frau, die ich immer geliebt habe. Sie lebt. Wir leben. Sie wird Grace kennenlernen.
Ich sehe auch Julian. Er steht mit nacktem Oberkörper schwankend und schwitzend auf einem Haufen Schutt und hämmert mit einem Gewehrkolben gegen die Mauer, bis sie splittert und ein feiner Regen aus weißem Staub auf die Leute unter ihm niedergeht. Die Sonne lässt seine Haare wie einen hellen Feuerkreis leuchten, versieht seine Schultern mit weißen Flügeln.
Einen Moment verspüre ich überwältigende Trauer – weil sich die Dinge verändern, weil wir nie zurückkönnen. Ich bin mir keiner Sache mehr sicher. Ich weiß nicht, was aus uns werden wird – aus mir, aus Alex und Julian, aus allen anderen.
»Los, komm, Lena.« Grace zieht an meiner Hand.
Aber es geht nicht darum, zu wissen, wie es weitergeht. Es geht einfach darum, weiterzumachen. Die Geheilten wollen es wissen; wir haben uns stattdessen für Vertrauen entschieden. Ich habe Grace gesagt, sie solle mir vertrauen. Wir werden auch vertrauen müssen – darauf, dass die Welt nicht untergeht, dass es ein Morgen gibt und dass sich die Wahrheit durchsetzt.
Eine alte Zeile, eine verbotene Zeile aus einem Text, den Raven mir mal gezeigt hat, fällt mir ein. Wer springt, kann abstürzen, aber vielleicht fliegt er auch.
Es ist Zeit zu springen.
»Gehen wir«, sage ich zu Grace und lasse mich von ihr ins Gedränge führen, während ich die ganze Zeit ihre Hand fest umklammere. Wir schieben uns in die rufende, fröhliche Menschenmenge und drängen uns bis zur Mauer vor. Grace klettert auf einen Haufen aus kaputtem Holz und Brocken aus zerschmettertem Beton und ich folge ihr unbeholfen, bis ich auf wackligen Beinen neben ihr stehe. Sie schreit – lauter, als ich sie je habe schreien hören, ein Gebrabbel aus Freude und Freiheit – und ich stelle fest, dass ich einstimme, während wir gemeinsam mit den Fingernägeln auf Betonstücke losgehen und zusehen, wie sich die Grenze auflöst, zusehen, wie eine neue Welt
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