Requiem (Amor-Trilogie) (German Edition)
passiert?«
»Das erzähle ich dir alles später.« Ich nehme ihr Kinn in die Hand. »Hör zu, Grace. Ich möchte dir sagen, wie leid es mir tut. Es tut mir leid, dass ich dich zurückgelassen habe. Ich werde dich nie wieder verlassen, okay?«
Ihre Augen mustern mein Gesicht. Sie nickt.
»Ich werde dich jetzt beschützen.« Ich dränge die Worte an dem Kloß in meinem Hals vorbei. »Glaubst du mir das?«
Sie nickt erneut. Ich ziehe sie an mich und drücke sie fest. Sie fühlt sich so dünn an, so zerbrechlich. Aber ich weiß, dass sie stark ist. Das war sie schon immer. Sie wird auf das, was kommt, vorbereitet sein.
»Nimm meine Hand«, sage ich. Ich weiß nicht genau, wo ich hinsoll, und plötzlich habe ich Raven vor meinem inneren Auge. Dann fällt mir ein, dass sie tot ist, an der Mauer ermordet wurde, und die Übelkeit droht mich erneut zu überwältigen. Aber Grace zuliebe muss ich ruhig bleiben.
Ich muss einen sicheren Ort finden, wo ich mit Grace hinkann, bis die Kämpfe vorbei sind. Meine Mutter wird mir helfen; sie wird wissen, was zu tun ist.
Gracies Griff ist überraschend fest. Wir bahnen uns einen Weg am Ufer entlang, schlängeln uns zwischen den verletzten, sterbenden und toten Leuten hindurch – Invaliden und Aufsehern gleichermaßen. Am Kopf des Abhangs stützt sich Colin schwer auf einen Jungen und humpelt zu einer freien Stelle auf dem Gras.
Der Junge blickt auf und mir bleibt das Herz stehen.
Alex.
Er sieht mich fast sofort, nachdem ich ihn entdeckt habe. Ich will nach ihm rufen, aber die Worte bleiben mir im Hals stecken. Einen Augenblick zögert er. Dann lässt er Colin ins Gras sinken, beugt sich runter und sagt etwas zu ihm. Colin nickt, umfasst sein Knie und zuckt zusammen.
Alex kommt auf mich zugerannt.
»Alex.« Es ist, als würde er erst dadurch, dass ich seinen Namen ausspreche, wirklich. Er bleibt ein kurzes Stück vor mir stehen und sein Blick huscht zu Grace und dann wieder zu mir. »Das ist Grace«, erkläre ich und ziehe an ihrer Hand. Sie bleibt zurück und versteckt sich hinter mir.
»Ich kann mich erinnern«, sagt er. Da ist keine Härte mehr in seinem Blick, kein Hass mehr. Er räuspert sich. »Ich dachte, ich würde dich nie wiedersehen.«
»Hier bin ich.« Die Sonne ist übermäßig hell und ganz plötzlich fällt mir nichts ein, was ich sagen könnte, keine Worte, die all das beschreiben, was ich gedacht, gewünscht und mich gefragt habe. »Ich … ich habe deine Nachricht bekommen.«
Er nickt und kneift ganz leicht die Lippen zusammen. »Ist Julian …?«
»Ich weiß nicht, wo Julian ist«, sage ich und bekomme augenblicklich Schuldgefühle. Ich muss an seine blauen Augen denken und an seine warme Umarmung im Schlaf. Ich hoffe, er ist nicht verletzt. Ich bücke mich, um Grace in die Augen sehen zu können. »Setz dich kurz hierhin, Gracie, okay?«
Sie lässt sich gehorsam auf dem Boden nieder. Ich bringe es nicht über mich, weiter als zwei Schritte von ihr wegzugehen. Alex folgt mir.
Ich senke die Stimme, damit Grace uns nicht hört. »Ist das wahr?«, frage ich ihn.
»Ist was wahr?« Seine Augen haben die Farbe von Honig. Dies sind die Augen, an die ich mich aus meinen Träumen erinnere.
»Dass du mich immer noch liebst«, sage ich atemlos. »Ich muss es wissen.«
Alex nickt. Er streckt die Hand aus und berührt mein Gesicht – fährt mir ganz leicht über die Wange und streicht eine Haarsträhne zur Seite. »Das ist wahr.«
»Aber … ich habe mich verändert«, sage ich. »Und du hast dich verändert.«
»Ja, auch das ist wahr«, sagt er leise. Ich sehe die Narbe in seinem Gesicht an, die sich vom linken Auge bis zum Kiefer erstreckt, und in meiner Brust gibt es einen Ruck.
»Und jetzt?«, frage ich ihn. Das Licht ist zu hell; der Tag fühlt sich an, als würde er in einen Traum übergehen.
»Liebst du mich?«, fragt Alex. Und ich könnte weinen; ich könnte mein Gesicht an seine Brust drücken und einatmen und so tun, als hätte sich nichts verändert, als würde alles wieder perfekt und ganz und heil.
Aber das kann ich nicht. Ich weiß, dass ich das nicht kann.
»Ich habe nie aufgehört, dich zu lieben.« Ich wende den Blick ab. Ich sehe Grace an und das mit Verwundeten und Toten übersäte hohe Gras. Ich denke an Julian und seine leuchtend blauen Augen, an seine Geduld und Güte. Ich denke an all die Kämpfe, die wir geführt haben, und all die Kämpfe, die noch vor uns liegen. Ich hole tief Luft. »Aber es ist nicht so einfach.«
Alex
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