Requiem für eine Sängerin
Ärger stellte Deborah fest, dass sie errötete, doch sie hoffte, er würde es nicht sehen. Angesichts seiner kultivierten Art fragte sie sich, warum er als Chauffeur arbeitete.
Er achtete wieder auf den morgendlichen dichten Verkehr. Sie betrachtete seine Hände am Lenkrad, die langen, kräftigen Finger in den dünnen Autohandschuhen. Ihr Blick wanderte zu seinen schlanken, muskulösen Beinen in der marineblauen Hosen; plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie ihn anstarrte und er ihr beiläufiges Interesse als ernsthaft auffassen könnte, wenn sie nicht vorsichtig war. Da sie von Natur aus romantisch veranlagt und zutiefst frustriert war, erkannte sie die Alarmsignale in ihrem Verhalten.
Nach ein paar Minuten des Schweigens wagte sie eine Bemerkung.
«Sie haben etwas von einer Schwester gesagt, haben Sie Kontakt mit ihr?»
«Nicht so oft, wie mir lieb wäre. Sie arbeitet im Ausland, in Brüssel, daher sehe ich sie nur selten. Was ist mit Ihnen – haben Sie Geschwister?»
«Ich bin ein Einzelkind. Mein Vater ist vor ein paar Jahren gestorben. Meine Mutter wohnt in der Nähe; ich sehe sie ziemlich regelmäßig – allerdings sind es eher Pflichtbesuche, denn wir kommen nicht besonders gut miteinander aus. Ich habe meine eigene Familie, ein Mädchen und einen Jungen.»
Deborah hörte sich unermüdlich weiterplappern und verstummte unvermittelt. Sie wusste selbst nicht, warum sie einem vollkommen Fremden so viel über sich preisgab, und fühlte sich bloßgestellt. Aber er wirkte so vertrauenswürdig, schien sich aufrichtig für sie zu interessieren, obwohl er sie durch ein Tohuwabohu von aggressiven Fahrern in schwarzen Taxis und tollkühnen Fahrradkurieren steuern musste. Unwillkürlich dachte sie an Derek, der schon unter günstigsten Umständen kaum Interesse an dem zeigte, was sie sagte, auf gar keinen Fall aber beim Autofahren.
Er freute sich über ihre Zutraulichkeit. Sie wirkte sichtlich entspannter. Wichtiger aber war, dass sie den Straßen, durch die sie fuhren, kaum Aufmerksamkeit schenkte.
«Ich muss kurz anhalten und ein paar Stoffmuster abholen, die ich ins Büro bringen soll. Ich hoffe, das macht Ihnen nichts aus; es dauert nur einen Moment.»
«Kein Problem. Sie scheinen doch trotz des Verkehrs gut voranzukommen, und wir müssen erst um zehn da sein, o der?» Deborah erwiderte sein dankbares Lächeln und machte es sich in dem Ledersitz bequemer.
Langsam fuhr er in eine Nebenstraße der Kensington High Street und gleich danach in eine schmale Gasse, die im rechten Winkel davon abzweigte. Er hatte sich vor einigen Wochen für die Stelle entschieden und sie mehrmals besucht, um sich zu vergewissern. Die meisten Anwohner waren um diese Zeit wohl zur Arbeit gegangen, und die wenigen anderen brachen ganz sicher noch nicht zum Einkaufen auf. Er hielt vor einer Doppelgarage auf der schattigen Straßenseite, wo zwei Lorbeerbäume in Kübeln die Beifahrerseite des Autos abschirmten.
Er öffnete die Fahrertür, womit durch die Zentralverriegelung auch alle anderen Türen und die Kofferhaube aufgingen, ließ seine Tür offen, ging um das Auto herum zum Kofferraum, zog den Reißverschluss des kleinen Necessaires auf, das er dort verstaut hatte, und holte die Spritze heraus. Im Schatten der Kofferhaube, von der Straße wie von der Frau auf dem Beifahrersitz abgeschirmt, überprüfte er sorgfältig die Dosis und verbarg die Spritze anschließend in der ausgestreckten linken Hand.
Gerade laut genug, dass es im Innern des Wagens zu verstehen war, rief er: «Mrs. Fearnside, es tut mir Leid, dass ich Sie noch einmal belästigen muss, aber könnten Sie mir vielleicht kurz helfen?»
Deborah riss sich aus ihrem Tagtraum und löste den Sicherheitsgurt. Sie drehte sich zur offenen Tür um und stellte fest, dass er schon da stand, mit dem Rücken zur hinteren Beifahrertür und die rechte Hand ausgestreckt, um ihr beim Aussteigen zu helfen. Noch sitzend streckte sie ihm ihre Linke entgegen und rechnete mit einem leichten Erschauern bei der Berührung. Sanft drehte er ihre Hand, als wollte er sie küssen. Sie schaute ihm erwartungsvoll in die Augen und registrierte erstaunt seinen stechenden Blick.
Deborah verspürte einen plötzlichen Anflug von Angst, als ihr klar wurde, dass sie nichts über diesen faszinierenden Fremden wusste, der sich da so entschlossen über sie beugte. Sie wollte ihm ihre Hand entziehen, doch sein Griff wurde fester. Seine linke Hand glitt auf sie zu und stach ihr die Nadel in die Ader auf dem
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