Requiem für eine Sängerin
reglos da und betrachtete den Hörer. Die Enttäuschung raubte ihm die Stimme, und wie Übelkeit breitete sich Angst in seiner Magengegend aus.
«Derek, alles in Ordnung?»
«Ja, Mavis, mir geht es gut. Ich – ich dachte, du wärst Debbie, das ist alles. Ich wollte dich gerade anrufen; sie ist noch nicht zu Hause, weißt du, und ich dachte, sie könnte bei dir sein.»
«Nein, hier ist sie nicht. Ich habe den ganzen Tag nichts von ihr gehört und mache mir allmählich Sorgen.»
«Ich bin auch ein wenig besorgt. Es ist keine Nachricht von ihr auf dem Anrufbeantworter.»
Er hörte ihre tröstenden Worte, die seinen vorherigen eigenen Versuchen einer rationalen Erklärung ähnelten. Seine Schwäche erfüllte ihn mit Ekel, daher bemühte er sich verzweifelt, ruhig zu klingen, als er antwortete. «Ich habe keine Ahnung, wo sie sein könnte, Mavis. Die Züge haben keine Verspätung. Fällt dir etwas ein?»
«Hast du es schon bei Leslie Smith versucht? Sie wollten doch zusammen fahren. Brauchst du die Nummer? Zwei drei drei vier neun sechs, hast du das?»
«Ja, danke. Hör zu, ich frage nicht gern, aber könntest du …?»
«Mich um die Kinder kümmern? Natürlich. Sieh du zu, dass du herausfindest, was los ist. Sicher gibt es eine ganz einfache Erklärung. Ruf mich dann noch mal an, ja?»
Geistesabwesend legte Derek auf. Er war wütend auf Deborah, weil er sich ihretwegen solche Sorgen machen musste. Eine ganze Weile starrte er verdrossen die Tapete mit ihrem georgianischen Streifenmuster an, hellbeige und cremefarben. Er konnte sich genau an den schlimmen Streit erinnern, den sie bei der Auswahl der Tapete gehabt hatten. Er hatte darauf bestanden, dass sie etwas Einfarbiges nehmen sollten; Deborah dagegen hatte eisenhart darauf beharrt, dass dies das Muster für die Diele sei, auch wenn die Tapete schwer anzubringen sein würde. Der Zwist auf dem Parkplatz vor dem Baumarkt (wo sie nichts gekauft hatten) war zu einem handfesten Krach über ihre Ehe ausgeartet; Deborah hatte seinen Pragmatismus kritisiert, seinen Mangel an Phantasie und seine Verachtung für alles Schöne, die, wie sie behauptete, ihrer ganzen Ehe die Romantik genommen habe. Er hatte es ihr mit gleicher Münze heimgezahlt und ihr vorgehalten, welche Auswirkungen ihre neuesten Extravaganzen auf ihr schmales Bankkonto hätten und dass es ihr generell an gesundem Menschenverstand fehle – ein Wortgefecht ohne Sieger, aber mit jeder Menge emotionaler Blessuren.
Am Ende war er in das Geschäft zurückgestürmt. Sie war mit den Kindern nach Hause gefahren, wo er zwei Stunden später mit der verabscheuten Tapete erschienen war. Wie sich herausstellte, hatte er zu viel gekauft, und die Farbnummern der einzelnen Rollen stimmten nicht überein, wodurch das Tapezieren zu einem wahren Albtraum wurde. Sie hatten nie wieder über den Vorfall gesprochen, aber insgeheim hassten sie das Dekor inzwischen beide. Nun wünschte er sich, er könnte die ganze Geschichte ungeschehen machen. Was spielte es für eine Rolle, dass das Tapezieren länger gedauert hatte? Einst hatte er geglaubt, er würde alles für sie tun; nun empfand er plötzlich Abscheu vor sich selbst.
Er wählte Leslies Nummer und sprach dabei ein stummes Gebet: Bitte lass Debbie nach Hause kommen.
Leslie konnte ihm nicht weiterhelfen. Sie erzählte ihm von ihren Problemen am Morgen und dass – Ironie des Ganzen – der Rektor sie gar nicht hatte sprechen wollen, ja sogar den Anruf abgestritten hatte. In dem Schweigen danach wurde ihnen beiden klar, was der Streich möglicherweise bedeutete. Es war ein albtraumhafter Gedanke, aber nachdem auch nur der vageste Hinweis auf eine Verschwörung zur Sprache gekommen war, ließ er sich nicht mehr wegwischen.
«Meinst du, ich sollte die Polizei rufen?»
«Ich weiß es nicht, ehrlich. Es ist erst halb acht – und was willst du denen sagen?»
«Ich habe keine Ahnung, aber etwas muss ich doch tun! Ich kann nicht hier rumsitzen, aber was sonst? Ich könnte nach London fahren. Hast du die Adresse von dem Studio?»
«Nur von dem, wo die ersten Fotos gemacht worden sind, aber heute sollten wir in ein anderes. Aber bevor du dich auf die Suche nach ihr machst – bist du denn sicher, dass sie den Zug erwischt hat? Steht ihr Auto noch am Bahnhof?»
«Darauf habe ich nicht geachtet.»
«Von uns ist es nur ein kurzer Fußmarsch. Wenn du willst, schicke ich Brian nachsehen und ruf dich zurück.»
Das war immerhin etwas. Während Leslies Mann die kurze Strecke
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