Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Requiem für eine Sängerin

Requiem für eine Sängerin

Titel: Requiem für eine Sängerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Corley
Vom Netzwerk:
flach auf den Rücken und verfolgten wie hypnotisiert den Flug der Möwen, die am wolkenlosen Himmel ihre Kreise zogen. Eine leichte Brise wehte ihnen kitzelnde Haarsträhnen in die Gesichter; zur Abwechslung sagte einmal keine von ihnen ein Wort.
    In der vollkommenen Stille stimmte Carol die Barkarole aus Hoffmanns Erzählungen an. Spontan stimmte Octavia ein und nahm Carols Hand. Die kristallklaren Töne stiegen zum grenzenlosen Himmel empor wie das Lied einer Lerche. Als sie fertig waren, herrschte wieder Stille. Ihnen allen war klar, dass sie sich an diesen Augenblick ein Leben lang erinnern würden.
    Der raue Schrei einer Möwe zerriss die Stille, und sie lachten verlegen, wie Menschen es immer sind, wenn sie unerwartet tiefe Gefühle miteinander teilen. Deborah, die stets als Erste bereit war, ein Schweigen mit Worten zu füllen, drehte sich auf die Seite und sah Carol an.
    «Eigentlich solltest du dir mit deiner Stimme auch überlegen, ob du nicht Musik studieren willst.»
    «Meinst du? Na ja, darüber habe ich auch nachgedacht, und wisst ihr was? Wahrscheinlich tue ich das auch.»
    Alle sahen sie überrascht an. Bis zu diesem Augenblick schien Carols ganzes Sehnen und Trachten gewesen zu sein, Ärztin zu werden.
    «Was?» Octavia schien am meisten verblüfft, obwohl sie und Carol sich am nächsten standen. Sie waren immer zusammen, so eng verbunden, dachte Deborah, dass ich wahrscheinlich die Art ihrer Beziehung hinterfragt hätte, wäre Carol körperlich reifer gewesen. «Davon hast du nie ein Wort gesagt. Wie um alles in der Welt bist du auf diese Idee gekommen?»
    «Ich weiß nicht. Ich denke schon das ganze Semester darüber nach. Es scheint mir einfach das Richtige zu sein. Mir ist klar geworden, dass die Musik wahrscheinlich das Wichtigste in meinem Leben ist.»
    Carol sah verlegen aus. Sie war von Natur aus bescheiden, und es fiel ihr schwer, über ihre musikalischen Ambitionen zu sprechen, zumal sie bereits eine ausgezeichnete Sportlerin war und bei ihren Prüfungen hervorragend abgeschnitten hatte. Als sie sah, dass ihre beste Freundin sie immer noch ungläubig anstarrte, versuchte sie, es ausführlicher zu erklären.
    «Ich glaube, den Ausschlag hat das Verdi-Requiem gegeben. Beim ‹Offertorium›, da, wo der Sopran sich über die anderen Stimmen aufschwingt, wusste ich plötzlich, dass ich singen muss . Ich habe zur Decke der Kathedrale geschaut und einfach gewusst , dass ich singen und auftreten muss, so weit meine Stimme es zulässt.»
    Sie hatten alle vier im Chor mitgesungen. Die Aufführung hatte begeisterte Kritik bekommen. Deborah begriff, wie Carol zu ihrer Entscheidung gekommen war. Sie hatte nicht nur eine wunderschöne Stimme – wenn sie sang, dann sang sie aus tiefster Seele. Mehr als einmal war Deborah beim Zuhören zu Tränen gerührt gewesen. Es war eine großartige Begabung, wie Carol überhaupt ein besonderer Mensch war. Octavia aber hatte immer noch Mühe, es zu verstehen.
    «Aber du wolltest doch Ärztin werden. Du hast immer gesagt, dass du anderen Menschen helfen willst – und anständig Geld verdienen, damit du deine Familie versorgen kannst. Und das Singen …»
    «Seht mal», fiel Kate ihr ins Wort, «da drüben winkt jemand. Ich glaube, das ist Sticky.» Sie sah auf die Uhr. «Herrgott, es ist gleich Viertel nach drei, und wir sollten Punkt drei spätestens zurück sein. Sie haben sich bestimmt schon Sorgen gemacht. Kommt.»
    Sie sprangen auf und liefen zurück.
     
    Trotz ihrer unglücklichen Lage wurde Deborah durch die friedvolle Erinnerung in einen unruhigen Schlummer gelullt. Die Stellen, wo ihre Haut die stinkende Plastikplane berührte, wurden wund; ihre Lippen und die Kehle waren trocken wie Pergament. Ihre Oberarme, die durch den Winkel, in dem ihre Handgelenke ans Bett gefesselt waren, unnatürlich überdehnt wurden, hatten sich derart verkrampft, dass nichts den Schmerz lindern konnte, wie sehr Deborah auch Hals und Schultern drehte. Der Geruch in dem Zimmer war Ekel erregend. Der Lärm des Sturms schwoll immer noch weiter an. Windböen bahnten sich einen Weg durch die Fensterritzen und bauschten die dünnen Vorhänge zu geisterhaften Figuren, die in dem spärlichen Licht, das unter der Tür hindurch hereinkam, bedrohlich tanzten.
    Gegen drei Uhr morgens wurde ein Dachziegel aus seiner Verankerung gerissen und krachte auf die Steinplatten im Hof. Erschrocken, desorientiert, bis auf die Knochen durchfroren und von einem sengenden Durst gepeinigt, schlug Deborah

Weitere Kostenlose Bücher