Requiem für eine Sängerin
verzweifelten Schluchzen der Tränenflut, die ihren Hals noch rauer machte. Irgendwann ließ der Weinkrampf nach. Keine Tränen mehr, keine Energie. Aber die Bilder von Skalpellen und Messern gingen ihr nicht aus dem Sinn.
Um sich abzulenken, versuchte Deborah, sich darüber klar zu werden, welches Geheimnis er ihr entlocken wollte. Da war diese kurze Affäre gewesen, zwischen der Geburt ihres ersten Kindes und der zweiten Schwangerschaft. Derek wusste nichts davon; es war so schnell vorbei gewesen, wie es angefangen hatte, ein klassisches Tennisklub-Techtelmechtel, anfangs aufregend, dann nur noch peinlich. Das war nichts; niemand konnte sich ernsthaft dafür interessieren.
In Gedanken schweifte sie noch weiter zurück, zu ihrem Job, den sie bereitwillig aufgegeben hatte, als sie schwanger wurde. Sosehr sie sich auch anstrengte, aus den vier Jahren, die sie als Zahnarzthelferin gearbeitet hatte, fiel ihr nichts ein, das auch nur im Geringsten heimlichtuerisch oder tragisch gewesen war; es war niemand in der Narkose gestorben, keine einzige Leiche war anhand der Patientenunterlagen identifiziert worden.
Sie wanderte immer weiter zurück, bis sie die Universität hinter sich gelassen hatte und in der Schule angelangt war. Schon beim ersten Anflug einer Erinnerung erstarrte sie. Nein. Das konnte es nicht sein. Es war zu lange her, so lange, dass sie es fast vergessen hatte und sich halb in der Überzeugung wiegte, es hätte nichts mit ihr zu tun. Sie hatte lange gebraucht, um es zu vergessen. Jahrelang hatte sie unter Albträumen gelitten, hatte ihr davor gegraut, schlafen zu gehen. Mit der Zeit – und mit Dereks Hilfe – hatten die Träume sich verflüchtigt und kehrten nur hin und wieder zurück, wenn die Kinder mit auf Schulausflüge wollten.
Im Geiste sondierte sie die Ränder dieser heiklen Erinnerung und arbeitete sich nur ganz allmählich zu deren Herzen vor. Sie rekonstruierte den Tag und zwang sich, alle schrecklichen Einzelheiten erneut zu durchleben, bis zu dem grauenhaften Weg zurück nach Hause, wo sie wartete, bis die Kunde von der Leiche sich herumsprach. Wieder liefen ihr Tränen über das Kinn und tropften auf die Plastikplane. Bis zum heutigen Tag hatte sie nie wieder solche Angst gehabt und sich so sehr gewünscht, die Vergangenheit ungeschehen machen zu können.
Der Tag hatte so wunderschön angefangen, es war der fünfzehnte Juni gewesen. Sie hatten ihre Prüfung hinter sich, und der Geografiekurs der zehnten Klasse unternahm zur Feier einen Ausflug. Früh am Morgen waren sie unbekümmert zur Küste von Dorset aufgebrochen, dreizehn Mädchen, die Geografie- und die Turnlehrerin, alle im Minibus der Schule. Anfänglich kreisten die Gespräche überwiegend darum, wer sich wie toll in welcher Prüfung geschlagen hatte, wobei sie sich darüber einig waren, dass die Physikklausur von einem bösen Genie aus der Hölle zusammengestellt worden war.
Sie saßen zu fünft auf der Rückbank – eigentlich zu viert, aber Leslie hängte sich nun mal immer dran, wie lauwarm die anderen sie auch abfertigten. Sie war klein, trug eine Brille und Zahnspangen und war schon deshalb niemand, mit dem man gesehen werden wollte; enge Freundinnen hatte sie keine. Die anderen vier, in derselben Volleyballmannschaft, demselben Chor, derselben Klasse, waren unzertrennliche Freundinnen – die selbstsichere Kate; die atemberaubende Octavia, die sicher war, dass sie einmal Musikerin werden würde; die stille, durchtrainierte Carol, die wie ein Engel sang und mit Octavia um die wichtigen Sopranpartien rivalisierte; und Deborah, die Hübscheste und Mittelmäßigste – sie war nicht so klug wie die anderen, aber ihr Aussehen und ihr trockener Humor sicherten ihr einen Platz in der Gruppe der Auserwählten.
Um elf erreichten sie Durdle Door, gerade noch rechtzeitig, um vor dem Mittagessen einen Spaziergang auf den Klippen zu machen. Das Wetter war grandios, schon nach kurzer Zeit trugen sie nur noch T-Shirts und Jeans. Die Sonne brannte auf ihre frühlingshaft weiße Haut, und sie genossen die Wärme und begannen mit dem Bräunen, das den größten Teil der langen Sommerferien in Anspruch nehmen sollte.
Nach dem Essen brachen sie zu ihrem zweiten Spaziergang auf. Wie immer übernahm Kate die Führung, entschied, welcher Pfad eingeschlagen wurde, und ging so schnell voran, dass Deborah mit ihren kurzen Beinen bald weit zurück blieb. Auf einer Hügelkuppe ließen sie sich in das federnde kurze Gras fallen, legten sich
Weitere Kostenlose Bücher