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Reseph

Reseph

Titel: Reseph Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Larissa Ione
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grausam gewesen, wollte ihn dazu bringen, wütend auf sie zu sein, doch stattdessen hatte er sie geküsst. Sie geküsst, dass es ihr den Atem verschlagen hatte.
    Trotzdem hatte sie ihn verlassen.
    Er kannte niemanden. Er hatte kein Zuhause, keinen Job, keine Freunde. Und sie hatte ihn einfach stehen lassen, hatte dafür gesorgt, dass man ihn in ein Frauenhaus abschob.
    Zweifellos hatte Reseph dort mehr als genug Gesellschaft.
    Dieser spezielle Gedanke brachte sie derartig auf, dass sie aufhörte, sich um ihn Sorgen zu machen.
    Eine ganze Stunde lang.
    Dann fiel ihr auf, wie groß das Wohnzimmer ohne ihn wirkte. Wie einsam der Küchentisch aussah, wenn er nicht da war, und sie sich nicht mit ihm unterhalten konnte.
    Und wie dämlich es von ihr war, sich dermaßen wegen jemandem aufzuregen, der sich nur ein paar Tage lang in ihrem Haus aufgehalten hatte.
    Aber
wow!
, dieser Jemand konnte küssen. Selbst jetzt noch wurde ihr ganz heiß, wenn sie daran dachte. Die Art und Weise, wie er sie berührt hatte, hatte sie in Brand gesetzt. An der Position seiner Hände war nichts Unangemessenes gewesen, aber an ihren Gedanken schon.
    Als sie gerade den Mantel zuknöpfte, um ihre abendlichen Pflichten zu erledigen, klingelte das Telefon. Sie hob ab, und am anderen Ende war Stacey, die sich gar nicht erst mit einem Hallo aufhielt.
    »Warum hast du mir nicht erzählt, dass du das ganze Wochenende über einen fremden Mann bei dir zu Hause hattest?«, fuhr Stacey sie an. »Einen fremden Mann mit Amnesie?«
    »Ich wünsche dir ebenfalls einen guten Abend, Stacey.«
    »Und?«
    Wenn Stacey eines war, dann hartnäckig. »Die Telefonverbindung war untergebrochen, und mit Rauchsignalen kenn ich mich leider nicht aus.«
    »Dir ist aber schon klar, dass er dich mit einer Kettensäge hätte zerteilen und es Monate hätte dauern können, ehe das irgendjemand überhaupt mitkriegt?«
    Jillian seufzte. »Du bist doch ständig hier oben. Du hättest meinen armen zerfetzten Körper nach wenigen Tagen entdeckt.«
    »Darum geht’s doch gar nicht«, sagte Stacey, »und das weißt du genau.«
    »Na, du sagst mir doch immer, dass ich einen Mann im Haus brauche.«
    Stacey fluchte – und Jillian hätte sich vor Lachen beinahe in die Hose gemacht. Ihre Freundin war bei ernsten, tief religiösen Eltern aufgewachsen; wenn sie also dann doch einmal ein unanständiges Wort benutzte, kam es als ein Flüstern oder praktisch unverständlich heraus.
    »Einen
Mann
«, schoss Stacey zurück. »Nicht Freddy Krueger.«
    »Vertrau mir«, murmelte Jillian. »Reseph ist kein gruseliger Messerstecher wie aus dem Film.« Sie lehnte sich mit der Schulter gegen die Tür. »Arbeitest du heute Abend?«
    »Ja. Darum ruf ich ja an. Ich hab nämlich gerade einen Anruf von Nancy Garrett erhalten.«
    Ein ungutes Gefühl kroch Jillians Rückgrat hinauf. »Die Frau, die das Heim leitet?«
    »Genau. Wie’s aussieht, ist Freddy abgehauen.«
    Jillian stand mit einem Schlag wieder kerzengerade. »Abgehauen? Hat er denn niemandem gesagt, wo er hinwollte?«
    »Nö. Nancy wollte vor ein paar Minuten nach ihm sehen, und da war er weg.«
    »Scheiße.« Jillian blickte wild um sich. Schlüssel. Wo waren nur ihre Schlüssel? Sie musste sie wohl im Truck gelassen haben. »Du musst ihn finden. Sonst erfriert oder verhungert er da draußen.«
    »Ich bin sicher, dem geht’s gut. Offensichtlich war er ja auch einfallsreich genug, sich bei dir einzuschleichen.«
    Jillian sah sich nach ihren Handschuhen um. »Er hat sich nirgendwo eingeschlichen.«
    »Meinst du, er hat sich vielleicht an etwas erinnert?«
    »Ich weiß nicht.« Sie fand die Handschuhe auf dem Wohnzimmertisch und stopfte sie in ihre Manteltaschen. »Hör mal, ich bin schon auf dem Weg zu euch. Ich helfe euch nach ihm zu suchen.«
    »Nein, Jillian. Er ist nicht mehr dein Problem. Wir kümmern uns darum.«
    Problem.
Das war im Grunde genommen das, was sie zu ihm gesagt hatte. Er sei ein Problem. Er hatte nichts und niemanden, und sie hatte sich seiner genauso entledigt, wie manche Leute sich ihrer Haustiere entledigten, ohne einen Gedanken daran, wie verängstigt und verwirrt sie ohne die einzigen Menschen und das Zuhause sein mussten, die sie kannten. Ein überwältigendes Gefühl der Scham drohte sie zu erdrücken.
    »Ich finde«, sagte Stacey ruhig, »du solltest für eine Weile bei mir wohnen.«
    »Was? Warum?«
    »Ich kann im Moment nicht darüber reden, aber vertrau mir, okay?«
    Eisige Kälte kroch ihr bis in die Knochen.

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