Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition)

Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition)

Titel: Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marianne de Pierres
Vom Netzwerk:
weiter zu der langsam verblassenden Narbe am Ohrläppchen zu wandern, wo der Aufseher sie mit der Schmerznadel gestochen hatte, nur weil sie gefragt hatte, ob sie die Bibliothek besuchen dürfe.
    Aber die Nadel war nicht so schlimm gewesen wie der Gehorsamkeitsstreifen. Als der Aufseher ihn angebracht hatte, hatte er erst eine Ewigkeit ihren nackten Schenkel gemustert, die weiche Haut gedrückt und befühlt und ihre Unterwäsche beiseitegeschoben, damit sie ja nicht die Wirkung beeinträchtigte.
    Sie hatte sich so geschämt, dass sie am liebsten im Boden versunken wäre. Und danach hatte der Aufseher ihn tagelang geprüft, zu jeder Zeit, um ganz sicherzugehen, dass er auch wirklich Schmerzattacken auslöste, wann immer es ihm beliebte. Manchmal weckte er sie sogar nachts damit, oder er aktivierte das Ding während des Abendessens. Einmal hatte sie vor Schmerz ihre Fleischsuppe erbrechen müssen, und Vater hatte sie ohne Essen auf ihr Zimmer geschickt. Da hatte es ihr aber schon nichts mehr ausgemacht. Sie hatte nicht einmal geweint.
    Schmerz aushalten zu können verlangte Übung.
    Übung bedeutete Flucht. Freiheit.
    Retra hörte auf, ihr Gesicht abzutasten, und trocknete sich mit dem Mantelärmel ab. Ihr Haar war noch hochgesteckt, doch ein paar Strähnen hatten sich gelöst. Sie öffnete es ganz und fuhr mit gespreizten Fingern hindurch. Joel hatte die Vorschrift, dass die Mädchen und Frauen in Seal die Haare zusammengebunden und bedeckt zu tragen hatten, immer dumm gefunden. Warum braucht man es denn dann überhaupt , hatte er gesagt, wenn man es immer verstecken muss?
    Respektlosigkeit schien ihm so leichtzufallen. Retra dagegen fand es schwer, ebenso schwer wie jemanden zu lieben, der einen grausam behandelte. Man konnte sich allerdings auch dort zugehörig fühlen, wo man grausam behandelt wurde. In der Anlage der Seal hatte sich Retra sicher gefühlt.
    Bis Joel gegangen war.
    Sie fing die losen Strähnen wieder ein, befestigte den Schleier und nahm den Absatz von der Tür. Sie würde zum Bug zurückkehren und sich dort hinsetzen, also entfernt von Cal und Markes. Um in aller Ruhe nachzudenken und Pläne zu schmieden.
    Der Riper holte sie im Morgengrauen. In harschem Ton riss er sie aus dem leichten Schlummer, in den sie gefallen war; um richtig zu schlafen, war es zu kalt.
    »Komm nach unten. Sofort.«
    Auch wenn Cal ihn vorhin bewundert hatte, konnte Retra nichts Anziehendes in den leeren Augen und den leblos kalten Händen erkennen, die sie auf die Beine zogen. Sie bemerkte einen Riss in seinem Ledermantel und darunter etwas, das nicht wie Haut aussah. Bei diesem Anblick begann sie erneut zu zittern. Sie entriss ihm ihren Arm und bohrte die Nägel in die Handfläche, um sich zu beruhigen.
    »Wir durchfahren bald den Rand der Spirale«, sagte er. »Dann ist es hier oben nicht sicher.«
    Retra folgte ihm über das Deck durch das Licht des frühen Morgens, das sich mit rosafarbenen Fingern bis zu der schmalen Stahltreppe tastete. Als sie in die Kabine hinunterging, sah sie dunkle Blutspuren an der Wand, die wohl jemand übersehen haben musste, der in aller Eile saubergemacht hatte.
    Unten angekommen umhüllten sie Wärme und Stimmengewirr. In der hell erleuchteten Kabine drängten sich aufgeregte und gesprächige Ausreißer aus Grave. Für einen Moment hob die allgemeine Vorfreude auch ihre Laune.
    Sie ertappte sich dabei, wie sie sich nach Markes umsah. Er lehnte am Bugschott, und Cal hing an seinem Arm. Ihre Meinungsverschiedenheiten schienen bereits vergessen.
    Retra ging zur entgegengesetzten Seite der Kabine und damit weg von ihnen. Doch Markes fing ihren Blick auf und lächelte.
    Dann schlug ein Riper eine Trommel. Andere Riper kamen die Treppe herunter und verteilten sich in der Menge. Manche waren so groß, dass sie sich wegen der niedrigen Decke bücken mussten. Alle hatten sie denselben leeren Blick.
    »Setzt euch. Jeder!«, befahl einer von ihnen. »In der Spirale sollte man nicht stehen. Solange ihr sitzt, werdet ihr keine Hyperreaktion erleiden.«
    Daraufhin ließen sich alle gleichzeitig zu Boden sinken und fielen lachend übereinander. Retra drückte sich gegen eine Wand, sorgsam darauf bedacht, jegliche Berührung mit ihren Nachbarn zu vermeiden. An Menschenmengen war sie nicht gewöhnt; der Geruch ihrer Körper verursachte ihr Übelkeit.
    »Was ist eine Hyperreaktion?«, hörte sie jemanden fragen.
    »Das passiert, wenn man die Spirale durchquert. Manche sind dann richtig gut drauf, andere

Weitere Kostenlose Bücher