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Rette mich vor dir

Rette mich vor dir

Titel: Rette mich vor dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tahereh H. Mafi
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vergesse, was ich für mich behalten sollte.«
    »Nein – bitte – ich möchte das gerne hören«, sage ich. »Wirklich.«
    Castle starrt auf seine Hände. Lächelt ein wenig. »Es ist keine lange Geschichte. Kenji hat mir nie erzählt, was mit seinen Eltern geschehen ist, und ich habe mich bemüht, ihn nicht zu fragen. Er hat mir nur seinen Namen und sein Alter gesagt. Ich habe ihn durch Zufall gefunden. Ein Junge, der in einem Einkaufswagen saß, fern der Zivilisation. Nur mit einem alten T-Shirt und einer zu großen Jogginghose bekleidet, mitten im Winter. Er sah halb erfroren und verhungert aus. Ich konnte ihn nicht einfach seinem Schicksal überlassen«, sagt Castle. »Ich habe ihn gefragt, ob er Hunger hat.«
    Er verstummt, versinkt in seinen Erinnerungen.
    »Zuerst hat er keinen Ton gesagt«, fährt Castle dann fort. »Hat mich nur angestarrt. Ich wollte fast wieder weggehen, weil ich dachte, ich hätte ihn furchtbar erschreckt. Aber da packte er plötzlich meine Hand und schüttelte sie wie wild. Und sagte: ›Guten Tag, Sir. Mein Name ist Kenji Yamamoto, und ich bin neun Jahre alt. Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen.‹« Castle lacht, aber in seinen Augen stehen Tränen. »Muss furchtbaren Hunger gehabt haben, der arme Kleine. Er war immer schon«, sagt Castle, schaut zur Decke und blinzelt heftig, »ein Mensch mit einem starken Willen. Und so stolz. Nicht aufzuhalten, der Junge.«
    Wir versinken alle in Schweigen.
    »Ich hatte keine Ahnung«, sagt Adam schließlich, »dass Sie beide sich so nahestehen.«
    Castles Lächeln ist angestrengt. »Ja«, sagt er. »Nun gut, ich denke, Kenji wird sich erholen. Morgen geht es ihm bestimmt schon besser. Deshalb sollten Sie beide jetzt unbedingt schlafen gehen.«
    »Sind Sie si–«
    »Ja. Bitte. Mir geht es gut hier mit den Mädchen, ganz bestimmt.«
    Wir stehen auf. Und Adam schafft es, James hochzunehmen, ohne dass er aufwacht.
    Beim Hinausgehen schaue ich noch einmal zurück.
    Castle sinkt auf einen Stuhl und schlägt die Hände vors Gesicht. Dann streckt er zittrig eine Hand aus und legt sie auf Kenjis Bein, und mir wird plötzlich bewusst, dass ich immer noch so wenig weiß über die Menschen, mit denen ich hier lebe. Und dass ich mich so lange verweigert habe, an ihrer Welt Anteil zu haben.
    Jetzt weiß ich, dass ich das ändern möchte.

61
    Adam bringt mich zu meinem Zimmer.
    Seit etwa einer Stunde ist Schlafenszeit, und wir bewegen uns nur im schwachen Schein der Notleuchten vorwärts. Die Wachen auf Patrouille ermahnen uns, auf direktem Wege zu unseren getrennten Zimmern zu gehen.
    Adam und ich sprechen nicht, bis wir im Wohnbereich der Frauen ankommen. Zwischen uns gibt es so viele Spannungen, unausgesprochene Sorgen, Befürchtungen. So viele Gedanken zu heute und morgen und den vielen Wochen, die wir zusammen verbracht haben. So vieles, was wir nicht wissen über unsere Gegenwart und unsere Zukunft. Und ihm so nahe und zugleich so fern zu sein ist schmerzhaft.
    Ich sehne mich danach, die Lücke zwischen unseren Körpern zu schließen. Jeden Teil seines Körpers mit den Lippen zu berühren, den Duft seiner Haut zu atmen, die Kraft seiner Glieder, seines Herzens zu spüren. Mich zu umhüllen mit der Wärme und Geborgenheit, die mir Sicherheit spendet.
    Aber.
    Andererseits ist mir klar geworden, dass ich durch das Getrenntsein von ihm gelernt habe, Sicherheit in mir selbst zu finden. Angst nicht zu unterdrücken, weil ich weiß, dass ich sie alleine bewältigen kann. Ich musste ohne Adam trainieren, kämpfen, muss gegen Warner und Anderson und das Chaos in meinem Kopf antreten. Und fühle mich jetzt anders. Ich fühle mich stärker, seit ich mich von Adam entfernt habe.
    Und ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat.
    Ich weiß nur, dass es für mich nie wieder in Frage kommen wird, mich komplett auf jemand anderen zu verlassen, abhängig zu sein von der Selbstbestätigung durch einen anderen Menschen. Ich kann Adam lieben, aber er kann nicht meine Stütze sein. Ich werde niemals ich selbst sein, wenn ich jemanden brauche, der mich förmlich zusammenhält.
    In meinem Kopf herrscht Chaos. Jeden Tag fürchte ich aufs Neue, dass ich Fehler machen, die Beherrschung oder den Zugang zu mir selbst verlieren könnte. Doch ich muss mich diesen Herausforderungen stellen. Denn ich werde für den Rest meines Lebens immer stärker sein als alle anderen.
    Wenigstens in dieser Hinsicht muss ich mich nicht fürchten.
    »Geht es dir so weit okay?«, fragt Adam

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