Rette mich vor dir
nicht, weshalb.
Ich weiß nicht, warum ich Warner schütze.
Vielleicht, weil ich fürchte, dass die Worte dann wahr werden. Ich weiß noch immer nicht, ob Warner wirklich flüchten will, und wenn ja, wie; ich weiß nicht einmal, ob es überhaupt möglich wäre. Und ich weiß nicht, ob ich jetzt jemandem von Warners Fähigkeit erzählen kann; ich möchte Adam nicht erklären müssen, dass ich – während sich alle um Kenji kümmerten – mit unserer Geisel, unserem Feind, in einem dunklen Tunnel hockte und dessen Hand hielt, um seine Kräfte zu testen.
Ich wünschte, ich wäre nicht so entsetzlich verwirrt.
Ich wünschte, ich würde mich wegen meiner Erlebnisse mit Warner nicht so entsetzlich schuldig fühlen. Nach jedem Gespräch mit Warner, jedem Augenblick, den ich in seiner Nähe verbracht habe, fühle ich mich, als hätte ich Adam betrogen – obwohl wir ja eigentlich gar nicht mehr zusammen sind. Mein Herz fühlt sich immer noch so sehr an Adam gebunden; als müsste ich wiedergutmachen, dass ich ihn bereits so sehr verletzt habe. Ich will nicht der Grund für den Schmerz in Adams Augen sein, nicht schon wieder. Und deshalb habe ich wohl beschlossen, dass ich meine Geheimnisse bewahren muss, um ihn nicht zu verletzen. Aber in meinem tiefsten Inneren weiß ich, dass das nicht richtig ist. Dass es übel enden kann.
Doch ich bin außerstande, mich anders zu verhalten.
»Juliette?« Adam hält mich noch immer in den Armen, so nah und warm und wunderbar. »Alles in Ordnung mit dir?«
Und ich weiß nicht, was mich zu der Frage treibt, aber ich muss es plötzlich wissen.
»Wirst du es ihm jemals sagen?«
Adam schaut mich an, ohne mich loszulassen. »Was?«
»Warner. Wirst du ihm die Wahrheit sagen? Über euch beide?«
Adam blinzelt verblüfft, überrumpelt von dieser Frage. »Nein«, antwortet er schließlich. »Niemals.«
»Warum nicht?«
»Weil man viel mehr braucht als Blut, um verwandt zu sein«, sagt er. »Und ich will nichts mit dem zu tun haben. Ich würde ihn gerne sterben sehen, ohne auch nur im Geringsten Reue oder Mitleid zu empfinden. Er ist ein menschliches Monstrum.« Adam hält inne. »Wie mein Vater«, fügt er dann hinzu. »Und ich will lieber tot umfallen, als den als meinen Bruder anzuerkennen.«
Ich fühle mich, als würde ich gleich ohnmächtig werden.
Adam umfasst meine Taille, sucht meinen Blick. »Du stehst noch unter Schock«, sagt er. »Du musst was essen – oder Wasser trinken –«
»Es geht schon«, erwidere ich. »Alles okay.« Ich gönne mir noch einen letzten Moment in seinen Armen, bevor ich mich löse, weil ich tief Luft holen muss. Versuche mir einzureden, dass Adam Recht hat, dass Warner entsetzliche Dinge getan hat und ich ihm nicht vergeben darf. Ich sollte Warner nicht anlächeln. Ich sollte nicht einmal mit ihm sprechen. Und dann möchte ich am liebsten laut schreien, weil ich diese gespaltene Person nicht mehr ertragen kann, zu der ich mich in letzter Zeit entwickle.
Ich sage Adam, ich bräuchte einen Moment Zeit. Ich müsste noch mal auf die Toilette, bevor wir zur Krankenstation gehen, und er sagt, kein Problem, er würde auf mich warten.
Bis ich bereit sei.
Und ich husche in den dunklen Tunnel zurück, um Warner zu sagen, dass ich gehen muss, dass ich nicht zurückkommen werde. Doch als ich in die Dunkelheit spähe, kann ich nichts erkennen.
Ich schaue mich um.
Er ist verschwunden.
60
Wir müssen nichts tun für unseren Tod.
Unser Leben lang können wir uns in einem Schrank unter der Treppe verstecken, und er wird uns dennoch finden. Der Tod wird in einem unsichtbaren Umhang erscheinen, mit einem Zauberstab fuchteln und uns wegzerren, wenn wir am wenigsten damit rechnen. Er wird jede Spur unserer Existenz auf Erden tilgen, und das alles kostenfrei. Er verlangt keine Gegenleistung. Bei unserer Bestattung wird er sich verbeugen und die Lobpreisung für gut getane Arbeit entgegennehmen. Dann wird er verschwinden.
Das Leben ist etwas fordernder. Eines müssen wir nämlich immer tun. Atmen.
Ein und aus, jede Sekunde Minute Stunde jeden Tages müssen wir uns Luft zuführen, ob es uns gefällt oder nicht. Selbst wenn wir uns vornehmen, unsere Hoffnungen und Träume zu ersticken, müssen wir immer noch atmen. Selbst wenn wir verfallen und dem Mann an der Ecke unsere Würde verhökern, atmen wir noch. Wir atmen, wenn wir uns irren, wir atmen, wenn wir Recht haben, wir atmen sogar, wenn wir in einen Abgrund stürzen und unser Leben verfrüht ein Ende nimmt.
Weitere Kostenlose Bücher