Rettungskreuzer Ikarus Band 032 - Vor der großen Stille
erstaunlich war. Er hielt seine Hände dem Medoroboter
entgegen, der sie sofort mit einem desinfizierenden Sprühnebel bedeckte.
»Es ist so, Captain«, sagte der Arzt schließlich. »Die
Frau ist sehr schwer verletzt. Ich konnte sie ein wenig stabilisieren, aber
sie hat ganz erhebliche Gehirnschäden davon getragen, starke innere Blutungen
und ... na ja, sie wird es nicht mehr lange machen, so leid mir das auch tut.
Ich bezweifle, dass ich sie auf der Ikarus lange am Leben erhalten kann,
und selbst wenn, würde sie den Rest ihrer Existenz nur noch dahinvegetieren.
Das Trauma ist zu stark, da kann keine Medizin des Imperiums mehr helfen. Aber
so, wie ich das sehe, geht es dem Kind gut und die Gebärmutter ist nicht
verletzt. Ich werde daher das Kind per Kaiserschnitt entbinden. Sie ist offenbar
im achten oder neunten Monat, das ist kein Problem und ich habe Brutkästen
in Bereitschaft. Ich weiß nicht, wie lange ich der Mutter noch werde helfen
können, aber das Kind sollte es schaffen.«
Die Geschäftsmäßigkeit seiner Aussagen täuschte. Dies ging
ihm genauso an die Nieren wie allen anderen hier, aber es lag Arbeit vor ihm,
und wie Sentenza gedachte er nicht, seine Gefühle vor seine Pflichten zu
stellen.
Er schaute sich um.
»Kennt jemand diese Frau? Kennt jemand weitere Familienangehörige?«
Ein Mann trat vor.
»Das ist die Frau des Provost. Sie heißt Aneka. Sie hatte einen kleinen
Laden hier im Wohnkomplex.«
»Der Provost?«
»Er war mal bei der Militärpolizei. Ich weiß gar nicht, wie
er wirklich heißt ... Nikolai war sein Vorname.«
»War?«
Der Mann schaute betrübt drein und wies auf einen Teil der Trümmer.
»Ich habe gesehen, wie er dort drüben von Betonblöcken begraben
wurde. Ich glaube nicht, dass er noch lebt.«
Eine Frau, hager und mit blutigen Schürfwunden, gesellte sich zu ihm. »Das
Kind ... es ist ein Mädchen.«
Anande nickte. »Stimmt.«
»Aneka hatte schon einen Namen für sie.«
In Sentenzas Gehirn machte es »Klick!«.
Die ganze Konversation über hatte er bereits ein sehr, sehr seltsames Gefühl
gehabt, eine Ahnung von etwas sehr Unwirklichem, das gleich passieren würde.
Informationsfragmente waren in seinem Kopf durcheinander gepurzelt und dann,
plötzlich, alle an ihren Platz gefallen. Jeder Corpsangehörige kannte
eine Geschichte und eine Person ganz genau.
Und je mehr er hörte, desto sicherer war er, dass er Zeuge eines historischen
Moments wurde.
Anande hatte den inneren Aufruhr Sentenzas nicht bemerkt und nickte der hageren
Frau als, während er sich gleichzeitig wieder der Verletzten widmete. Ein
Medoroboter glitt mit einem Brutkasten heran, fuhr eine Trage aus und hob die
Schwangere mit Gravstrahlen vorsichtig aus den Trümmern.
»Sudeka«, sagte die Frau nun. »Das Mädchen sollte Sudeka
heißen. Nennen Sie sie Sudeka Provost, das sagt alles aus.«
Zustimmendes Gemurmel klang aus der Menge.
Nun fuhr auch Anandes Kopf hoch. Seine Blicke trafen sich mit denen Sentenzas.
»Das kann nicht sein«, flüsterte der Arzt. »Sudeka Provost,
die Gründerin des Raumcorps, kann noch nicht geboren sein. Sie kann nicht
alt genug werden, die Große Stille zu überleben.«
»Sie nicht – aber ihre Urgroßmutter.« Sentenza wies auf
den gewölbten Bauch der Schwangeren, die nun ruhig auf der Trage lag. »Sudeka
Provosts Autobiographie beginnt mit ihrer Urgroßmutter gleichen Namens,
und der Aussage, dass sie über ihre weiteren Vorfahren und die Herkunft
ihres Namens keine Erkenntnisse gewonnen habe. Vergessen wir nicht, dass selbst
zur Großen Stille die durchschnittliche Lebenserwartung immer noch bei
150 Jahren gelegen hat. Es ist bekannt, dass unsere Sudeka selbst zweimal auf
Ephalus war, um eigene Nachforschungen zu betreiben, doch die Wirren und der
Zusammenbruch nach Beginn der Großen Stille waren zu groß und viele
Daten waren verloren gegangen.«
Sentenza blickte auf die Verletzte. Ein Sturm der Gefühle tobte in ihm,
das Gefühl der Unwirklichkeit verstärkt mit der Wahrnehmung von etwas
wie ... Vorsehung. Sentenza kämpfte diese Anwandlung nieder. Er hatte keine
Lust, sich in religiösen Phantastereien zu verwickeln.
»Wir werden dazu jetzt ein paar zusätzliche Informationen nach Hause
bringen können«, sagte er schließlich.
Nur Sudeka Provost, ihre Sudeka, die Gründerin des Corps würde
davon nicht profitieren können, dachte er bitter, während der
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