1041 - Der Rächer
Der Mann saß auf dem Hocker hinter dem kleinen Altar und zitterte. Er hatte die Beine fest zusammengepreßt und die Arme um seinen Körper geschlungen. Er sah aus wie jemand, der fror und sich durch diese Haltung gegen die Kälte schützen wollte.
Der Blick war ins Leere gerichtet. Der Mund stand offen. Die Atemzüge drangen stoßweise daraus hervor. Schweiß rann über sein Gesicht. Hin und wieder hüstelte er oder stöhnte auf. Dann hörte es sich an, als bestünde sein Dasein nur aus Qualen, und es waren tatsächlich starke Qualen, unter denen er zu leiden hatte. Der Haß machte ihn fertig. Er konnte nicht normal denken, nicht mehr nur normal Mensch sein. Er war ein Gefangener seiner eigenen Welt und seines eigenen Ichs. Er wußte auch, daß er Mühe hatte, sich aus diesem Gefängnis zu befreien. Zuviel war geschehen, zuviel hatte er sehen müssen. Die gesamte Welt um ihn herum war eine andere geworden, obwohl sie sich äußerlich nicht verändert hatte, sondern nur in seinem Innern.
Darüber dachte der Mann nicht nach. Das wollte er auch nicht. Es ging alles viel zu tief. Eine schreckliche Vergangenheit wäre dann wieder aufgestanden. Für ihn zählten die Gegenwart und die Zukunft, und beide faßte er unter einem Begriff zusammen: RACHE!
Er wollte und würde Rache nehmen. Rache an den Menschen, die ihm alles angetan hatten. Er wollte die Folgen seiner Rache sehen, spüren und hören können. Sie sollte wie eine Sinfonie sein, die langsam begann, sich immer mehr steigerte, um dann in einem furiosen Finale zu enden. Erst wenn das eingetreten war, würde er seinen Sieg errungen haben. Aber er würde weiter und weiter Rache nehmen, denn er wollte denen alles nehmen, die ihm so Schreckliches angetan hatten.
Er schüttelte sich. Bilder entstanden vor seinen Augen. Erinnerungen wurden für ihn sichtbar. Allerdings nicht sehr deutlich. Er sah sie verschwommen, er sah eine Gestalt, die durch ein schreckliches Chaos aus Gewalt, Feuer, Rauch und dämonische Fratzen taumelte, die allesamt auf ihn eindroschen.
Er hörte die schrecklichen Schreie, und er wußte, daß er selbst geschrien hatte.
Aber das war vorbei. Er war seinen Weg gegangen. Trotzdem ließ sich die Vergangenheit nicht töten. Sie kehrte immer wieder zurück, besonders in bestimmten Situationen wie dieser hier. Zwar saß er ruhig auf dem Hocker, nur täuschte das. Innerlich hatte er sich in ein gefährliches Monstrum verwandelt.
Noch immer starrte er auf einen imaginären Punkt. Dann bewegte er seine Lippen. Flüsternd zischte er die Worte hervor. »Ich bin der Rächer! Ich bin der Rächer! Ich allein…«
Der Rächer!
Welch ein Name, welch eine Welt!
Die Welt der Rache, die Welt des Todes, der Vernichtung. Die Schattenseite des Lebens, die er kennengelernt hatte. Zuvor hatte er nur von ihr in der Theorie gewußt. Nun aber sah es anders aus. Er hatte die Seiten gewechselt, und niemand würde ihn dazu bekehren können, wieder zurückzukehren. Da war er besser, da hatte er sich für die andere Seite endgültig entschieden, und er war froh darüber.
In der Kirche war es kalt. Es zog in allen Ecken. Um den Holzbau herum, der viel zu viele Lücken aufwies, pfiff der Wind wie ein heulender Bote. Er fand genügend Stellen, um in das Innere eindringen zu können.
Die Kirche war neu. Erst knapp einen Monat alt. Die Menschen hatten den Bau selbst finanziert. Nicht nur durch Geld, sondern auch durch ihren Körpereinsatz. Sie hatten mitgeholfen, das Gotteshaus zu bauen und waren stolz darauf gewesen, ihre ersten Messen feiern zu können. Es sollten auch ihre letzten sein.
»Und es werden eure letzten gewesen sein«, flüsterte der Rächer vor sich hin.
Danach veränderte sich seine Sitzposition. Er streckte die Arme und stand auf. Er war nicht sehr groß, auch nicht unbedingt breit in den Schultern oder schmal in den Hüften. Der Rächer war vom Aussehen her ein Durchschnittstyp. Doch er wußte auch, daß es nicht auf die Körpergröße ankam, sondern auf die innere Power, die einen Menschen antrieb, und nur das zählte.
In ihm steckte die Power, das würde er beweisen. Der Rächer gehörte zu den Pedanten. Bevor er sich vom Altar in eine bestimmte Richtung bewegte, rückte er den Hocker zur Seite und stellte ihn dicht an die gemauerte Seite.
Er richtete sich auf. Sein Blick fiel über den Altar hinweg in die Kirche hinein.
Sie war dunkel. Die graue Finsternis des frühen Novemberabends drückte gegen die Scheiben der kleinen Fenster. Licht drang kaum
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