Rettungslos
Haus beschreibt und dann relativ steil zum Deich hinaufführt.
Was nun? Ihr Gefühl sagt rechts, aber sie hat sich ja schon vorhin vertan. Nach kurzem Zögern beschlieÃt
sie, in dem Haus, das sie soeben passiert hat, nach dem Weg zu fragen. Im letzten Moment denkt sie noch daran, die Warnblinkanlage einzuschalten, dann steigt sie aus, schlieÃt das Auto ab und geht den steilen Weg hinab.
Das Haus wirkt verlassen. Nebelschwaden wabern über die Dachschräge und hüllen die Blumentöpfe und Buchsbaumhecken im Vorgarten ein.
Der Kies knirscht unter ihren Schritten, als sie zur Haustür geht. Sie klingelt. Ein nostalgisches Bimmeln ertönt.
Keine Reaktion. Senta versucht es erneut und lauscht an der Tür, aber das Klingeln verhallt, ohne dass von innen ein Geräusch zu hören ist. Durch das Mattglas der Haustür erkennt sie kaum etwas â vermutlich ist niemand zu Hause.
Ihr Blick fällt auf einen Anbau mit Garagentor, und sie beschlieÃt, aufs Geratewohl um das Haus herumzugehen.
Im Garten hinter dem Haus steht eine Trockenspinne. Bettwäsche, ein paar T-Shirts und ein Nachthemd hängen im Nebel. Auf dem Boden liegt ein Laken, daneben verstreute Wäscheklammern.
Ein Stück weiter befindet sich ein Korb mit Wäsche, der vermutlich von dem gusseisernen Gartentisch gefallen ist.
Senta hat das Gefühl, eine kalte Hand fahre ihr Rückgrat entlang. Der dichte Nebel, das unheimliche Szenario im Garten und die Totenstille schnüren ihr die Kehle zu.
Sie späht durchs Küchenfenster. Niemand ist zu sehen.
Allmählich kommt sie sich recht aufdringlich vor. Nachsehen, ob die Hintertür offen ist oder ans Fenster klopfen, ginge vermutlich zu weit â¦
Eine dumme Situation. Sie sollte lieber zum Wagen zurückgehen. Die DeichstraÃe muss ja in irgendein Dorf führen, egal, welche Richtung sie nimmt.
Sie macht einen kleinen Schritt zur Seite und reckt den Hals, um noch rasch einen Blick durch das Panoramafenster ins Wohnzimmer zu werfen. Ein Schreck durchfährt sie, als sie jemanden auf dem Sofa sitzen sieht. Eine junge Frau, die sie unverwandt anschaut. Selbst aus der Entfernung merkt Senta, dass sie leichenblass ist und völlig verspannt dasitzt.
Mit einer beschwichtigenden Gebärde und einem Lächeln gibt sie ihr zu verstehen, dass sie keine bösen Absichten hegt. Die Ãrmste hat sich bestimmt furchtbar erschrocken, als sie plötzlich aus dem Nebel trat. Mit fragend hochgezogenen Brauen deutet sie mit dem Kinn zur Küchentür, aber die Frau rührt sich nicht von der Stelle. Neben ihr liegt ein kleines Mädchen unter einer Decke. Sekundenlang hält ihr Blick den Sentas fest, sie hebt langsam die Hand und streicht sich das blonde Haar aus dem Gesicht. Dann wendet sie die Augen ab.
Der Anblick der Frau lässt bei Senta alle Alarmglocken schrillen. Vielleicht ist es der starre Gesichtsausdruck, vielleicht auch der blutige Verband um die Hand. Wie angewurzelt bleibt sie stehen â bloà keinen Schritt weiter!
Trotzdem macht sie den Schritt. Einen kleinen nur, nicht in Richtung Küchentür, sondern auf das Fenster
zu. Wegen der Gardine kann sie nicht das ganze Zimmer überblicken, aber es hat mehrere Fenster, die viel Licht hereinlassen. Auch hinter dem Sofa, auf dem die Frau sitzt, ist solch ein Fenster, und darin spiegelt sich das Zimmer.
Mitten im Raum steht ein Mann. Sein Gesichtsausdruck ist wachsam, er wirkt wie ein Raubtier, das sich jeden Moment auf seine Beute stürzen kann. In der rechten Hand hält er ein groÃes Messer.
Unwillkürlich tritt Senta einen Schritt zurück. Der Mann hat sie nicht bemerkt, vermutlich glaubt er, sie stünde noch vor der Haustür. Nur die Frau hat sie gesehen, und die begeht nicht den Fehler, noch mal zum Fenster zu schauen.
Mit vorsichtigen Schritten zieht sie sich zurück und ist heilfroh, dass sie nicht an die Küchentür geklopft oder, schlimmer noch, einfach das Haus betreten hat.
Ihr Herz rast, als sie um die Garage herum zur Vorderseite des Hauses läuft. Auf dem Kiesweg zwingt sie sich zu einem langsameren Tempo, wie jemand, der nach mehrmaligem Klingeln aufgegeben hat und nun wieder geht.
Bis sie den Deichkamm erreicht hat, rechnet sie ständig damit, dass der Mann ihr nachkommt. Sie muss sich zusammenreiÃen, um nicht über die Schulter zu blicken. Mit zügigen Schritten geht sie auf ihr Auto zu, erst dann dreht sie sich um.
Das Haus
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