Rico, Oskar und die Tieferschatten
ganz schnell an ihr rauf und runter, ohne den Kopf zu bewegen. Auf seinen Wangen waren rote Flecken erschienen. Wenn er jetzt noch anfing zu schwitzen, wären wir quitt.
»Moment noch«, sagte Mama, als wäre er bloß der Briefträger, und bog ins Bad ab. Wasser plätscherte. Man hörte sie gurgeln.
»Sie benutzt jetzt gerade Mundwasser«, flüsterte ich dem Bühl zu.
Er nickte freundlich und tat so, als sehe er sich in unserem schönen Flur um, aber zwischendrin guckte er mich schon wieder so komisch an. Sekunden später kam Mama aus dem Badezimmer, in ihrem japanischen Morgenmantel mit den pinseligen Schriftzeichen drauf, von denen wir uns manchmal ausdenken, was sie heißen könnten, zum Beispiel Guten Morgen oder Friede auf Erden oder Esst gefälligst mehr Gemüse!
»'tschuldigung«, murmelte sie. Dann stand sie vor dem Bühl und packte endlich die ausgestreckte Hand. »Tanja Doretti.« Sie lächelte. »Glaube ich wenigstens. Bin noch nicht ganz wach.«
»Simon Westbühl. Ich hoffe, ich habe Sie nicht -« »Haben Sie nicht.« Sie drehte sich um und schlurfte auf die Küche zu. »Auch einen Kaffee?«, fragte sie über die Schulter. »Läuft gerade durch. Ohne bin ich nicht zu gebrauchen.«
Ich hab mal mit Frau Dahling einen Film gesehen über den berühmten griechischen Helden ... Also, er fing mit O an und war mit einem Holzpferd im Krieg gewesen, und danach fuhr er jahrelang auf seinem Schiff durch die Gegend, um zu seiner geliebten Frau zurückzukehren. Die war zu Hause geblieben, wo sie inzwischen von tausend Männern belagert wurde, die alle scharf auf sie waren. Das wusste der O nicht, sonst hätte er sich vielleicht ein bisschen mehr beeilt. Stattdessen verfuhr er sich dauernd mit seinem Schiff und erlebte völlig wahnsinnige Abenteuer, aber am Schluss schaffte er es dann endlich zu seiner treuen Frau zurück und machte all diese Typen platt, mit Pfeil und Bogen und so weiter. Extrem cool!
Jedenfalls, irgendwann während seiner Irrfahrten, mitten in einem Sturm auf dem offenen Meer, kam der O mit dem Schiff und seiner Besatzung an ein paar Felsen oder einer Insel oder dergleichen vorbei, da saßen singende Frauen drauf, so eine Art Meerjungfrauen. Wer sie hörte, wurde ganz wuschig und wollte unbedingt zu ihnen, deshalb sprangen ein paar von Os Männern ins Wasser und ertranken bitterlich, so verlockend waren diese Stimmen. Wie Honig und Milch, sagte einer der Matrosen, bevor er über Bord ging, auch wenn Frau Dahling gemeint hatte, so doll sei das Gesinge aber nun echt nicht, eher wie Essig mit jeder Menge Zucker drin. Fast hätte sie zum Musikantenstadl umgeschaltet, aber dann siegte ihre Neugier, schließlich wollte sie wissen, was aus der treuen Frau vom O wurde. Der O hatte sich inzwischen, weil er nicht ertrinken, aber unbedingt das Gesinge hören wollte, von seinen Kameraden an den Schiffsmast binden lassen, und nur deshalb kam er mit dem Leben davon.
Den Bühl hatte keiner angebunden. Er stapfte hinter Mama her in die Küche, als hätte sie ihm auch gerade was vorgesungen, und er guckte dabei haargenau so verzückt wie der O, als er nicht vom Schiffsmast loskam. Mama zeigte auf einen Stuhl und stellte wortlos zwei Tassen auf den Tisch. Die Kaffeemaschine blubberte gemütlich vor sich hin. Ich setzte mich dem Bühl gegenüber. Er sah viel besser aus als der Schauspieler, der den O gespielt hatte. Und er passte total gut in unsere Küche.
»Sind Sie verheiratet?«, sagte ich.
Er fing an zu grinsen und schüttelte den Kopf. Tadellose weiße Zähne.
»Haben Sie eine Freundin?« »Rico!«, zischte Mama.
»Lassen Sie mal«, sagte der Bühl grinsend, schon wieder ohne den Blick von mir zu wenden. Die Frage beantwortete er nicht. Ich fand ihn trotzdem toll. Ich mag auch den Kiesling aus dem Dritten, jedenfalls vom Aussehen her. Ansonsten ist er meistens ziemlich knurrig, wahrscheinlich steht er nicht besonders auf Kinder. Aber der Kiesling würde Mama sowieso nie heiraten, auf Frauen steht er nämlich auch nicht.
»Wir gehen morgen Abend zum Kiezbingo«, sagte ich. »Bei den Grauen Hummeln . Wollen Sie mit?« »Rico, ab auf dein Zimmer«, befahl mir Mama. »Bitte!«
»Bingo?«, sagte der Bühl. »Das hab ich noch nie ... Ist das nicht was für Rentner?«
»Ja, aber es ist ein Platz frei geworden, weil neulich einer von ihnen gestorben ist. Hat bloß keiner bemerkt. Und Mama gewinnt fast immer, manchmal sogar mit meiner Karte!«
Mein Nachteil beim Bingospielen ist, dass selbst die lahmsten
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