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Rico, Oskar und die Tieferschatten

Rico, Oskar und die Tieferschatten

Titel: Rico, Oskar und die Tieferschatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steinhöfel
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seiner großen weißen Zähne. »Es ist gefährlich ohne Helm«, erklärte er, als wäre Mama das Kind und er der Erwachsene. »Es passieren ständig irgendwelche Unfälle.«
    »Aber nicht in meiner Küche, junger Mann!« Mama klang fast ein wenig beleidigt. »Rico wird dir das sicher bestätigen.«
    Ich runzelte die Stirn. »Ich hab mir vor einer Woche den Kopf am Kühlschrank gestoßen.«
    »Das war kein Unfall«, winkte Mama ab. »Du bist bloß zu schnell aus dem Flur gekommen und gegen die geöffnete Tür gerannt.«
    Oskar fühlte sich unwohl in Mamas Gegenwart, das konnte ich sehen. Er lugte unter dem oberen Rand des Helms hervor wie eine erschreckte Schildkröte. Er trug ein anderes Hemd als am Samstag, aber der knallrote Flieger mit der abgebrochenen Flügelspitze war wieder daran festgemacht, auf Brusthöhe über dem Herzen. Seine kleinen Finger tippten nervös auf dem Tisch herum, rapp-tippi-tapp. Wahrscheinlich befürchtete Oskar, Mama fände ihn unhöflich und würde ihn gleich auffordern, den Helm endlich abzunehmen.
    Ganz falsch lag er damit nicht, aber auch nicht ganz richtig. Mama kennt sich aus mit komischen Leuten. Ihre erste Regel ist, nie jemanden zu drängeln, der nicht freiwillig mit etwas rausrückt. Jedenfalls nicht mit Worten. Aber sie guckt. Sie guckt die Leute so lange an, bis sie es nicht mehr aushalten und endlich loslegen.
    Jetzt guckte sie Oskar an, mit dem neugierigen Blick eines Naturforschers, der soeben eine völlig neue Pflanzenart entdeckt hat. Ich war auch neugierig, wie Oskar unter dem Helm aussah. Vielleicht hatte er in Wirklichkeit gar keine Angst vor Unfällen. Vielleicht hatte er nur zwei ganz komische Ohren, für die er sich schämte. Oder gar keine - wie ein Entführungsopfer von Mister 2000, bei dem das Lösegeld nicht ganz gereicht hatte.
    Oskars Finger wurden immer langsamer, dann hörten sie mit dem Getippe auf. Er hob den Kopf, sah Mama direkt in die Augen und sagte: »Sie können mich ruhig weiter anstarren, solange sie wollen. Das macht mir nichts aus. Aber dann starre ich zurück.«
    Und das tat er. Zum ersten Mal fiel mir auf, wie grün seine Augen waren. Sie funkelten richtig. Nicht böse oder streitlustig. Sie funkelten einfach deshalb, weil Oskar solchen Spaß am Zurückstarren hatte. In diesem Moment beneidete ich ihn brennend um seine Hochbegabung. Wenn Mama mich anstarrt, schaue ich lieber sofort zu Boden und tue ganz interessiert, als würden da plötzlich bunte Ameisen rumlaufen oder als würde der Teppich ein bisschen brennen. Auf die Idee, ihrem Blick einfach standzuhalten, war ich noch nie gekommen.
    Ich war gespannt, wer von den beiden gewinnen würde.
    Mama war meine Mama, also sollte ich eigentlich zu ihr halten. Sie machte ihre Sache gut und zuckte mit keiner Wimper. Aber Oskar war viel kleiner als sie, und auch wenn er ebenfalls nicht mit der Wimper zuckte, fand ich den ganzen Anstarrkampf ein bisschen unfair. Entweder Mama dachte das auch, oder sie hatte keine Lust mehr. Jedenfalls sagte sie auf einmal:
    »Ich brauch neue Fußnägel.«
    Oskar und ich guckten gleichzeitig auf ihre Fußnägel. Auf jedem war ein winziger Delfin drauf, nur auf die beiden kleinen Nägel hatten keine gepasst.
    »Was wollen Sie denn statt der Delfine draufkleben?«, sagte Oskar, und es klang wie ein Friedensangebot.
    Mama zuckte die Achseln. »Mal sehen. Vielleicht irgendwelche anderen Fische.«
    Sie stellte ihre Kaffeetasse auf der Spüle ab, raffte den japanischen Morgenmantel zusammen und ging aus der Küche. Oskar wartete, bis sie außer Hörweite war, dann sagte er leise in meine Richtung: »Delfine sind keine Fische.«
    »Sie mag dich«, sagte ich.
    Er schüttelte den Kopf. »Sie weiß noch nicht, ob sie mich mag. Sie findet mich komisch, wegen des Helms.« Er klappte das Visier wieder runter. Seine Stimme klang jetzt wieder ganz dröhnig. »Jedes Jahr verunglücken fast vierzigtausend Kinder in Deutschland. Beinahe jedes dritte als Beifahrer in Autos. Fast vierzig Prozent mit dem Fahrrad. Und fünfundzwanzig Prozent als Fußgänger.«
    Mathe! Ich hab s ja schon erwähnt: Da geht bei mir gar nichts mehr.
    »Die meisten erwischt es auf dem Schulweg und nachmittags beim Spielen«, murmelte Oskar düster weiter. »Von den Radfahrern die meisten, weil sie die falsche Fahrbahn benutzen. Von den Fußgängern die meisten, weil sie, ohne zu gucken, über die Straße rennen. Ich gucke immer. Immer!«
    Mir fiel ein Unterschied zwischen uns auf: Ich habe fast dauernd gute

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