Rigor Mortis: Thriller Ein neuer Fall für Roy Grace (German Edition)
dachte er an den Jungen, der mit ausgebreiteten Armen vor den Schleusentoren hing. Er war es wert, dass man ihn rettete.
Halb kletternd, halb rutschend gelangte er irgendwie hinunter. Schaute die ganze Zeit vor sich, nicht nach unten. Er trug noch die Latexhandschuhe, die seine Hände ein paar Sekunden lang schützten, bis sie zerrissen und ein brennender Schmerz seine Handflächen überzog.
Dann berührten seine Füße den Boden, und er fiel auf den Rücken. Rappelte sich wieder auf. Rechts konnte er das Buglicht der Arco Dee sehen, die am Kraftwerk vorbeituckerte. Die roten Lichter an der Schleuse blitzten auf.
Nein. Nein. Nein.
Er rannte zum Metallzaun und merkte frustriert, dass er gefangen war. Vorher war er über die Paletten geklettert, doch der Rückweg war nicht so einfach.
»Glenn!«, schrie er, ohne zu wissen, wo sein Freund gerade war. »Glenn!«
»Ich bin hier, Boss!« Zu seiner gewaltigen Erleichterung kam die Stimme von der anderen Seite des Zauns.
»Hilf mir mal rüber!«
Sekunden später beugte sich Glenn von oben über den Zaun und zog Grace mit starken Händen hoch. Dann landete er auf der Plane, mit der die Paletten abgedeckt waren. Als er heruntersprang, war der Bug des Baggerschiffes mit ihnen auf einer Höhe.
»Ist jemand an der Schleuse?«
Branson schüttelte den Kopf.
»Sie darf nicht aufgehen!«
Er rannte los, Branson an seiner Seite. Dabei hörte er eine Kakophonie von Sirenen, die sich näherten. Sie rannten über den Kai und erreichten den Eingang zum Tor. Rote Lichter blitzten, ein lauter Warnton erklang. Als Grace den Übergang betrat, vibrierte er unter seinen Füßen. Er lief weiter, wobei das Tor unter ihm stärker und stärker ruckte. Dann hatte er die Mitte erreicht.
Plötzlich hörte das Vibrieren auf. Die Tore bewegten sich nicht mehr. Er sah nach unten und entdeckte den Jungen. Der Hubschrauber war genau über ihnen und beleuchtete Tyler wie einen grotesken Gekreuzigten, unter dessen Füßen das Wasser brodelte. Jede Sekunde würden ihn die Tore zerreißen.
»Scheiße, stoppt die Tore!«, brüllte Grace seinen Kollegen zu, während er über das Tor kletterte. Ein Ende des Seiles war an einem hölzernen Knauf knapp unter der Kante befestigt. Er riss wie wild daran.
Das Wasser unter ihm schäumte. Die Tore erzitterten, dann öffnete sich der Spalt Zentimeter für Zentimeter.
*
Branson rannte zum Kai, während sich die Tore immer weiter öffneten, stieß das Tor auf und stürzte auf das Gebäude der Hafenaufsicht zu. Dann spürte er, wie sich etwas um seine Beine wickelte, und er prallte mit dem Gesicht voran auf den Boden.
*
Roy Grace zerrte an dem Seil, das mit jeder Sekunde straffer wurde. Durch das Dröhnen des Hubschraubers, den Wind und den Regen hörte er ein gedämpftes Schreien. Dann plötzlich löste sich das Seil.
Der Junge stürzte ins Wasser und verschwand, während sich die Tore immer weiter öffneten.
Grace sprang in das eiskalte, brodelnde Wasser. Blasen stiegen um ihn auf. Es war zehnmal kälter, als er erwartet hatte. Er tauchte auf und rang nach Luft. Vor ihm ragte wie ein Wolkenkratzer der Bug des Baggerschiffes auf, nur wenige hundert Meter entfernt. Er wollte schwimmen, doch die Strömung zog ihn wieder nach unten. Als er erneut auftauchte, würgte er öliges, widerlich schmeckendes Wasser aus. Trotz seiner vollgesogenen Kleidung schwamm er mit aller Kraft zum anderen Ende der Schleuse, wo ein Seil vom Tor ins Wasser baumelte.
Er packte es und zog mit aller Kraft daran. Kurz darauf tauchte ein schweres Gewicht aus dem Wasser auf. Grace umfing den Kopf des Jungen mit den Armen und löste mit nassen, schlüpfrigen Händen das Klebeband von seinem Mund.
Sie gingen beide unter und tauchten wieder auf, wobei Grace hustete und spuckte.
»Alles ist gut! Alles ist gut!«
Wieder versanken sie.
Als sie das nächste Mal auftauchten, hatte das Baggerschiff angehalten. Sie waren ins Scheinwerferlicht des Hubschraubers getaucht. Der Junge kämpfte in wilder Panik. Grace tastete mit den Füßen, um Halt am Schilf zu finden, wobei er den Jungen gleichzeitig festhielt. Er zitterte. Klammerte sich mit der Hand an ein Schilfbündel. Der Kopf des Jungen ging unter. Er zog ihn hoch und hielt sich mit aller Kraft an den Rohren fest, die Hand fast taub vor Kälte.
*
Glenn Branson rollte sich herum und sah einen kleinen Mann, der zur Tür des Aufsichtsgebäudes lief. Er rappelte sich auf und stürzte sich auf ihn, als er gerade die Tür öffnen
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