Riley Das Mädchen im Licht
immer, was noch? Okay, ich schätze, der zweite Punkt dreht sich darum, als wir in der vierten Klasse einen Vertretungslehrer hatten. Jemand hat … ähm, ich meine, ich habe die Sitzaufstellung umgestellt, so dass die Mädchen alle Jungsnamen hatten, und die Jungen Mädchennamen. Aber auch in diesem Fall möchte ich betonen, dass mir mildernde Umstände zustehen. Zunächst einmal war das nicht allein meine Idee. Eigentlich war es gar nicht meine Idee. Aber egal. Der einzige Grund, warum ich mich dazu bereiterklärt habe, mitzumachen, ist, dass Felicia Hawkins mich herausgefordert hat. Und sie ist richtig fies – nur für den Fall, dass Sie sie nicht kennen. Im Ernst, sie war eines der gemeinsten, gehässigsten, versnobtesten Mädchen in der Schule, und das schließt übrigens auch die Schüler und Schülerinnen der fünften und sechsten Klasse mit ein. Wenn man das bedenkt, ist doch klar, dass ich keine andere Wahl hatte. Ich musste ihr beweisen, dass ich überhaupt keine Angst vor ihr, dem Vertretungslehrer oder sonst irgendjemandem hatte. Sonst hätte sie mich den Rest des Jahres fertiggemacht – oder sogar noch länger. Also, wenn jemand im Hier bestraft werden sollte, dann sie, Felicia Hawkins, nicht ich . Aber klar, sie lebt und atmet noch! Als ich sie zum letzten Mal sah, hat sie immer noch ihre Klassenkameraden terrorisiert, ohne dass das irgendwelche Folgen für sie hatte, während ich im Hier festhänge, auf einer doofen Bühne, in einem doofen Raum, und mich für ein paar doofe Sachen entschuldigen muss. Mal im Ernst, wie unfair ist das denn?«
Ich starrte sie an, erhitzt und mit hochrotem Kopf, aber obwohl die Frage nicht annähernd so rhetorisch war, wie sie vielleicht geklungen hatte, antwortete mir niemand. Sie beugten sich nur alle vor, fast gleichzeitig, als ob sie es einstudiert hätten, und ignorierten komplett meinen Gefühlsausbruch, der mir nicht wenig peinlich war. Dann richteten alle ihren Blick auf die Leinwand hinter mir. Auf eine Leinwand, die plötzlich zum Leben erwachte und eine Reihe von Bildern zeigte. Von …
Tja …
Von mir .
Von mir in Eugene, Oregon, als ich noch nicht einmal ein Jahr alt war und hinter meiner großen Schwester Ever herkrabbelte, die vier Jahre älter ist als ich und, soweit ich das sehen konnte, damals bereits bedauerte, keine Privatsphäre mehr zu haben.
Und wieder ich , wie ich wie eine Wilde auf meinem neuen violetten Fahrrad mit Stützrädern strampelte und verzweifelt versuchte, mit Ever Schritt zu halten, deren Fahrrad lindgrün und viel schneller als meines war.
Ich , ein paar Jahre später, als ich Evers Klamotten klaute und diese ohne ihr Wissen zur Schule anzog, obwohl sie mir nicht passten und ich die Hosenbeine und Ärmel hochkrempeln musste.
Ich , im letzten Jahr, als ich ihr und ihrem früheren Freund Brandon nachspioniert hatte und fasziniert, aber auch angewidert beobachtet hatte, wie sie sich auf der Couch in unserem Wohnzimmer geküsst hatten, als unsere Eltern ausgegangen waren und sie auf mich hätte aufpassen sollen.
Ganz ehrlich, ich hatte keine Ahnung, was der Rat sich dabei gedacht hatte, aber ich war beschämt. Es gelang mir nicht, den Blick von der Leinwand abzuwenden, wo vor meinen Augen diese schrecklichen Dinge abgespult wurden – tja, ich konnte nicht leugnen, dass ich den Großteil meines lächerlich kurzen Lebens damit verbracht hatte, ihr nachzustellen, sie zu bespitzeln, sie nachzuahmen und ihr so auf den Wecker zu fallen, dass es beinahe an Schikane grenzte.
Mehr als ein Jahrzehnt hatte ich mit einem langwierigen, bemitleidenswerten Versuch verbracht, genau so zu sein wie sie.
Mein Magen krampfte sich zusammen, als neue Bilder auf der Leinwand auftauchten. Jedes davon, das wieder erlosch, war ebenso erniedrigend wie das zuvor. Ich schlang meine Arme um meine Taille und wollte mich kleiner machen, verschwinden, an irgendeinem anderen Ort sein, nur nicht in diesem Raum, auf dieser Bühne. Mir war so übel wie damals, als ich einmal bei einem Ausflug seekrank geworden war.
Mein ganzes Leben war eine Lüge gewesen.
Überhaupt nicht so, wie ich gedacht hatte.
Und nun konnte ich diese Tatsache nicht mehr verleugnen.
Natürlich gab es auch noch andere Momentaufnahmen, wo Ever sich irgendwo mit ihren Freunden traf, während ich mit meinen Freunden rumhing. Aber größtenteils war es eben nicht so, daran gab es nichts zu rütteln.
Ich war eine typische kleine Schwester, die man jeden Tag am Hals hatte –
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