Rimbaud und die Dinge des Herzens: Roman (German Edition)
Den von Henry und mir. Als meine Mutter ihn kaufte, fanden wir ihn hässlich. Dann strich sie ihn blau. Da gefiel er uns schon besser. Ich berühre den Schrank. Das Holz zu spüren beruhigt mich. Ich lasse meine Hand über das Holz gleiten. Meine Augen gewöhnen sich an das Dunkel. Ich streife über meinen Schreibtisch. Meine Schulbücher. Meine Ordner. Das Glas mit meinen Stiften. Nächstes Jahr bekomme ich einen Computer. Henry will keinen.
An der Wand über meinem Schreibtisch hängt ein Foto. Ich sehe nicht viel, aber ich weiß, dass es da hängt und wer darauf ist. Yéyé, Karim, Brice und ich, als wir einmal einen von der Stadtverwaltung organisierten Busausflug ans Meer gemacht haben. Wir posen wie die Blöden am Strand, hinter uns ist das Meer. Und wir haben einander die Arme um die Schultern gelegt, um zu zeigen, dass wir die besten Freunde der Welt sind.
Ich gehe noch ein paar Schritte weiter.
Meine Augen haben sich an das Dunkel gewöhnt.
Besser werde ich heute Abend nicht sehen können.
Ich bin sehr müde, meine Beine sind ganz matschig, ich muss mich hinlegen.
Das Stockbett steht da. Es nimmt das halbe Zimmerein. Vielleicht liegt Henry oben in seinem. Ich würde gern hören, wie er sich umdreht. Jetzt stehe ich vor der Leiter. Ich habe nicht den Mut, hinaufzusteigen. Nicht der Mut der Erschöpfung fehlt mir. Sondern der Mut vor lauter Angst. Ich werde so tun, als wäre Henry da. Als wäre meine Mutter da. Als wäre ich da. In meinem Zimmer. Vor meinem Bett. Als würde ich schlafen gehen.
Ich lege mich hin.
Die Steppdecke ist weich und warm.
Ich liege auf der Seite.
Spüre, wie der Schlaf kommt.
Schließe die Augen.
Zwanzigstes Kapitel
23 Uhr 40
Plötzlich schreckte ich hoch.
Ich wusste nicht mehr, wo ich war, und brauchte gut zehn Sekunden, bis ich den Keller wiedererkannte. Ich glaube nicht, dass ich geschlafen hatte, aber ich erwachte wie aus einem Alptraum.
Ich stand auf und blieb stehen, einfach so.
Ich wollte meine Mutter sehen.
Das war doch alles unmöglich.
Wie konnte ich hier sein und sie woanders!
Ich überlegte, ob ich zum Abschiebegefängnis gehen sollte.
Sie würde auf der anderen Seite des Gitters stehen wie meine Kumpels während der großen Pause.
Ich wollte sie nur sehen, wenigstens von weitem. Ihr zuwinken. Ihr zulächeln.
Ich stopfte das Buch von Rimbaud wieder in die Hose, nahm die Rose aus der Bierflasche und verließ den Keller.
Niemand war unterwegs. Weder in der Eingangshalle noch vor dem Wohnturm oder auf der Straße. Alles war verlassen,und so hatte ich weiterhin das Gefühl, im Traum zu sein.
Die Nacht ist der Schatten des Tages.
Man erkennt die Dinge, aber sie sind seltsam. Wohntürme, Grünflächen, Parkplätze, alles ist im Einvernehmen mit der Nacht, so scheint es. Tagsüber gehört das Viertel uns, nachts gehört es niemandem.
Ich ging Richtung Louise-Michel. Vorbei am Shopping-Center. Das war vielleicht seltsam, den Parkplatz ganz leer zu sehen. Nur die Einkaufswagen standen zusammengeschoben da. Die riesige blaue Leuchtschrift
Carrefour
schien auf den Boden, das war beinahe so, als wäre man am Meer.
Ich rannte los.
Hinter dem
Carrefour
gibt es Lagerhallen. Fabriken. Gebäude. Und jedes Mal, wenn ich vorbeigehe, sind neue dazugekommen.
Ich rannte in der Mitte der Straße. Bestimmt war ich noch nie so schnell gelaufen. Ich hatte die Fäuste geballt, und meine Brust schmerzte. Ich wollte den Wind spüren. Ganz schnell laufen und einen Sturm entfachen. Ich hätte mir gewünscht, dass es regnet. Dann hätte ich mein T-Shirt ausgezogen und wäre durch den Regen gerannt.
Das Louise-Michel-Viertel wird gerade gebaut. Überall stehen Kräne herum, und die noch nicht fertiggestellten Häuser sehen aus wie Skelette.
Ich sah die Lichter, sie leuchteten wie die Scheinwerfer im Stadion. Ich rannte auf die Lichter zu.
Bis zum Abschiebegefängnis.
Es gab kein Gitter wie in der Schule. Nur Mauern. Mauern, die mindestens hundert Meter hoch waren. In der Mitte führte eine Treppe bis zum Eingangstor. Ein großes Eisentor.
Ich setzte mich auf die Stufen. Mein Herz schlug wie wild, und ich war vollkommen außer Atem.
Ich wollte meine Mutter sehen.
Vielleicht war sie da drin, hinter mir.
Ich schaute auf das Viertel vor mir.
Wie auf ein Bild.
Ich dachte an meine Freunde. Ich sah sie, wie sie jeder in ihrem Zimmer schliefen. Ich dachte an den Riesenkerl in der Cité Berlioz. Ich sah ihn, wie er in einer schmutzigen Ecke lag. Ich dachte an
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