GK0215 - Die Rache des Kreuzritters
»Also ich an Ihrer Stelle würde meine Ferien nicht in dieser Burg verbringen«, sagte der Wirt mit warnender Stimme und stellte dabei die beiden Weinpokale auf den runden Holztisch.
Paulette Plura lächelte. »Und warum nicht?« fragte sie.
Der Wirt krauste die Stirn. Er blieb neben dem Tisch stehen, sah sich um, ob auch niemand zuhörte, und erwiderte dann flüsternd: »Auf Burg Rochas spukt es.«
»Davon haben wir gehört«, meinte Paulette.
»Dann wissen Sie ja, daß der Kreuzritter umgeht.«
»Ist doch alles Quatsch, was die Leute erzählen.« Zum erstenmal mischte sich Michael Kramer in das Gespräch ein. Kramer war Paulettes Freund. Sie lebten schon einige Zeit zusammen, ohne sich jedoch entscheiden zu können, zum Traualtar zu gehen. »Kreuzritter, Spuk, Geister, wenn ich das schon höre. Wir werden auf der Burg einige Urlaubstage verbringen und uns prächtig erholen. Außerdem treffen wir uns hier noch mit Freunden. Und zu viert werden wir gegen den komischen Kreuzritter doch wohl ankommen. Oder meinen Sie nicht?«
Der Wirt hob nur die Schultern. Sein Gesicht hatte sich verschlossen. Schweigend machte er kehrt und ging zum Tresen zurück.
Draußen lachte ein strahlender Junitag. Die Sonne hatte einen Strahlenkranz über die bewaldeten Berge der Vogesen gelegt. Dazu kam der azurblaue Himmel, den kein Wölkchen trübte, und eine Luft, die wie Seide »schmeckte«.
Paulette Plura und Michael Kramer waren Studenten. Sie studierte Innenarchitektur und er Anglistik. Paulette wollte später mal in die Werbung oder bei einer Zeitschrift als Redakteurin anfangen. Aber so genau hatte sie sich noch nicht festgelegt. Sie war überhaupt sehr sprunghaft. Heute himmelhoch jauchzend – morgen wieder zu Tode betrübt. Total unausgeglichen, fühlte sich oft überstreßt und hoffte nun zusammen mit ihrem Freund – einen ruhigen Urlaub zu verbringen.
Auf einer alten Burg. Ohne jeglichen Komfort.
Dabei war sie genau das Gegenteil. Sie war ein Geschöpf der modernen Zeit, eine Frau, die nur nach marktorientierten Richtlinien lebte und manche Schönheiten des Lebens gar nicht erkannte.
Aber dieser Urlaub sollte ja alles wieder ins Lot bringen.
Paulette warf einen Blick auf die Uhr. »Wenn die anderen doch endlich kämen«, sagte sie.
»Wir waren für fünfzehn Uhr verabredet. Vergiß das nicht«, erwiderte Michael Kramer und nahm einen Schluck von dem Gewürztraminer. Dabei verdrehte er die Augen und ließ den Wein über die Zunge rinnen. »Herrlich. Ein Geschenk Gottes.«
Paulette lächelte nur. Sie hatte im Augenblick andere Sorgen. Ihr Kopftuch saß nicht. Sie hielt sich einen Spiegel vors Gesicht und begann das helle Tuch mit den blauen Punkten zurechtzuzupfen. Paulette Plura war keine Schönheit im landläufigen Sinne. Sie war überdurchschnittlich groß, hatte lange Beine und ein schmales, ziemlich blasses Gesicht. Das Haar trug sie sehr kurz geschnitten, was bewirkte, daß ihr Gesicht noch länger erschien. Sie war sechsundzwanzig Jahre alt und stand kurz vor dem Ende ihres Studiums.
»Du trinkst ja gar nichts«, meinte Michael.
»Keinen Durst.«
Der junge Mann sah seine Freundin skeptisch an. »So plötzlich? Vorhin hättest du noch die ganze Kneipe leertrinken können… willst du was anderes?«
»Nein.«
»Okay, Prinzessin.«
»Blödmann.« Demonstrativ blickte Paulette aus dem Fenster. Die Fenster des Gasthauses waren unterteilt. Jeweils vier Butzenscheiben bildeten ein großes Rechteck. Sie paßten zu dem alten Haus, das schon unter Denkmalschutz stand.
Hier schien der Gast förmlich mit der Geschichte zu leben. Die alten Bilder an den Wänden, die dicken Holzbänke und Tische. Die Balken, rußgeschwärzt und wurmstichig, die die Decke stützten. Der alte Kanonenofen in der Ecke und der Tresen mit der dicken Holzplatte, auf dem die schmiedeeisernen Lampen standen und am Abend ihr warmes gelbes Licht verbreiteten.
Paulette Plura und Michael Kramer waren die einzigen Gäste. Der Wirt hatte sich hinter die Theke zurückgezogen und las in einer Zeitung.
Es war sehr still geworden. Auch von der Straße her war kaum ein Geräusch zu vernehmen. Das Wirtshaus lag in einer schmalen Seitenstraße, etwas versetzt, und war von zwei mächtigen Platanen flankiert. Das grüne Blattwerk filterte das Sonnenlicht und schuf wohltuenden Schatten. Zwei Bänke standen unter den Bäumen. Sie luden zum Sitzen und Träumen ein.
Dieses Stückchen Erde war wirklich noch die so oft zitierte heile Welt. Die moderne Zeit
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