Rita das Raubschaf
mampfen.
»Hör s-o-f-o-r-t mit diesem Kariblick auf! Was immer das auch für ein Blick sein mag.«
»Ein Fernblick«, sagt Rita. »Aber ich schaue nicht mehr Richtung Karibik. Jetzt schaue ich nach Australien.«
»Australien? Was ist das nun wieder?«
»Australien ist sehr groß, und die Weiden sind dort nicht eingezäunt«, erklärt Rita.
»Was für ein Unsinn!« Beate vergisst vor Aufregung das Wiederkäuen. »Eine Weide ohne Zaun! So etwas kann keine Weide sein!«
»Schäferhunde gibt es dort nicht«, fährt Rita fort. »Und das ist gut so, denn Schäferhunde sind so doof wie blöd.«
Das Mutterschaf blökt erschrocken auf. »Jetzt spricht sie auch noch schlecht über Boris! Störrisches Schäfchen, du weißt ja nicht, was du redest! Stell dir doch nur einmal vor, der tapfere Hund würde uns nicht mehr beschützen!«
Beate senkt rasch den Kopf und rupft zur Beruhigung ein paar Ampferblätter.
»Ist ja gut, Mama.« Rita stößt einen Riesenseufzer aus. »Ist ja schon gut.«
Sie schaut sich um. Gar nichts ist gut. Hier ist nicht die Karibik. Hier ist nicht Australien. Hier ist kein Freibeuter weit und breit. Hier ist der Deich. Und der Deich ist eingezäunt, und zusätzlich passt Boris auf.
Rita kann Boris nicht leiden. Der Schäferhund frisst Fleisch mitsamt den Knochen, hat vor Schafen keinen Respekt und hält den Schäfer für den lieben Gott. Außerdem hat Boris noch weniger Ahnung von Piraten als die Schafe, die er bewacht.
Jede Nacht blättert Rita heimlich unterm Stroh in einem dicken Buch über die Geschichte der Freibeuterei. In manchen Nächten schleicht sie durch die Dunkelheit zur Hütte des Schäfers, stellt sich auf die Hinterbeine und späht durchs Fenster. Meistens läuft im Fernseher nur Quatsch, aber wenn sie viel Glück hat, kommt ein Piratenfilm. Tagsüber steht sie oben auf dem Deich und denkt sich Piratenabenteuer aus. Darin segeln edelmütige Freibeuter quer durch die Karibik bis nach Australien, wo die Weiden nicht eingezäunt sind.
Rita guckt übers Wasser zum Horizont und träumt davon, ein Raubschaf zu werden. Raubschafe fürchten weder Schäferhunde noch Bullterrier. Sie hissen auf ihren schnellen Schiffen die schwarze Fahne, zeigen auf die gekreuzten Knochen und knurren: »Fleischfresser kielholen! Hunde versohlen!«
In der Stadt
N icht weit entfernt lebt in der Stadt hinterm Deich das Meerschwein Ruth. Sein Fell sieht aus wie ungekämmt und fühlt sich weich und flauschig an. Ruth ist ein Rosettenmeerschwein. Die Menschen finden Rosettenmeerschweine ganz besonders niedlich. Deshalb rufen sie dauernd: »Süß!«, und grapschen nach Ruth. Jeder Mensch, der Ruth sieht, will sie unbedingt anfassen und streicheln und liebkosen und abknutschen. Ruth geht das mächtig auf die Nerven. Sie hat weder Lust, süß und niedlich zu sein, noch, ständig begrapscht zu werden.
Ruth verbringt ihre Tage in einem kleinen Käfig. Es gibt darin nichts als einen Unterschlupf, der wie ein Fliegenpilz aussieht. Und einen Futternapf in Herzform. Und jede Menge Sägespäne. Und jeder kann sich denken, was Ruth von ihrem Käfig hält.
Sie gehört einem Jungen namens Johann. Johann liebt sein Rosettenmeerschwein, und er liebt CD s über Ritter und den Wilden Westen, über die Entwicklung der Säugetiere, das Weltall, das alte Rom und besonders über Piraten. Deshalb findet Ruth ihn auch ganz in Ordnung. Würde er doch nur begreifen, dass sie nicht dauernd gestreichelt werden will! Und Ruth mitmachen lassen, wenn er Pirat spielt!
Johann hält Ruth für sehr scheu. Manchmal wundert er sich nur über die Geräusche, die sie macht. Normalerweise fiepsen und gluckern Meerschweine possierlich. Sein Meerschwein dagegen klingt, als würde es üben, zu fauchen und zu knurren. Wenn Johann seine Lieblings- CD über die Geschichte der Freibeuterei anhört und die Stelle mit den Piratenliedern kommt, scheint Ruth sogar die Melodie mitzubrummen.
Einmal wendet Johann sich an seinen Vater: »Ruth macht komische Geräusche.«
»Alle Meerschweine machen komische Geräusche.«
Der Vater fiepst und gluckert.
»Nein, sie macht andere Geräusche, als normale Meerschweine machen. Komische Geräusche eben.«
»Ach so? Was denn für welche?«
Johann faucht und knurrt.
»Du machst auch komische Geräusche«, sagt sein Vater und lacht.
Ruth fühlt sich ziemlich einsam. Deshalb beginnt sie eines Tages, sich mit Johanns Kuscheltieren zu unterhalten. Sie stellt ihnen Fragen, und die Antworten gibt sie jedes Mal
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