Rita das Raubschaf
selbst.
»Sträuben sich dir nicht sofort alle Nackenhaare, wenn Johanns Kusine Jessica reinkommt, Süüüß! schreit und dich abknutscht?«, fragt Ruth zum Beispiel den plüschigen Tyrannosaurus Rex.
»Es ist fürchterlich«, brummt der Dino. »Am liebsten würde ich meine Reißzähne blecken, dass Jessica quietscht. Wären die blöden Dinger doch bloß nicht nur aus Plüsch.«
Ruth nickt verständnisvoll. »Das ist wirklich Pech.«
Als Nächstes erkundigt sie sich bei der Vogelspinne mit den vielen Haaren aus Baumwollfäden: »Wie fühlst du dich, wenn du von Johann als Kopfkissen benutzt wirst?«
»Uuääh!«, erwidert dann die Vogelspinne.
»Wie recht du hast«, seufzt Ruth und befragt danach noch den Stofftiger, den Gummi-Alligator und schließlich auch den Weißen Knuddel-Hai.
Leider machen alle diese Gespräche auf die Dauer keinen richtigen Spaß. Die meisten Kuscheltiere würden natürlich ganz andere Antworten geben, wenn sie reden könnten.
Ruth konzentriert sich fortan lieber auf ihre Stimmübungen und denkt sich neue Piratenabenteuer aus. Schließlich ist sie schon lange Expertin für heldenhafte Kaperfahrten und träumt davon, ein Raubmeerschwein zu werden. Raubmeerschweine reisen unter der Totenkopfflagge bis in die Karibik und weiter nach Südamerika. Dort hat kein Meerschwein je einen Käfig gesehen. Die Freibeuter schwenken die Totenkopffahne und fauchen: »Grapschern misstrauen! Süßfinder verhauen!«
Einmal nimmt Johann Ruth mit in die Schule.
»Wie süüüüüß!«, schreien alle Kinder und stürzen sich auf das Meerschwein wie auf ein Erdbeereis. Ruth gluckert vor Empörung. Erschrocken weichen die Kinder zurück. Ruth räuspert sich erstaunt. Sie hat wahrhaftig geknurrt! Geknurrt wie noch nie. Laut und unheimlich. Wild und gefährlich.
Sie versucht es gleich noch einmal. Es funktioniert! Der Lehrer ist ganz blass geworden: »Johann! Bring dieses Tier sofort nach Hause!«
Zu Hause übt Ruth wie entfesselt weiter. Sie knurrt und schnauft wie ein alter Wolf und brummt wie ein wütender Bär. Sie knirscht und knarzt, hechelt und grunzt, als grölten Hyänen und Schakale gemeinsam dunkle Abendlieder.
»Hui«, denkt Johann. »Aber ich hab das ja schon lange geahnt.« Er stopft sich Watte in die Ohren und macht seine Hausaufgaben.
Als seine Mutter vom Einkaufen nach Hause kommt, ruft sie entsetzt: »Was ist denn hier los?!«
Johann gibt ihr Watte.
Als sein Vater nach Hause kommt, schreit er sofort: »Ruuuheee!«
Er reißt die Tür zu Johanns Zimmer auf und erstarrt: Die Wände scheinen zu beben, das Bett zu tanzen, die Tischfußballer zu steppen – und Johann liest. Er hat ja Watte in den Ohren. Ruth röhrt und röhrt und stört und stört.
Wenig später stehen zwei Polizisten vor der Tür: »Wir wurden von der Nachbarschaft alarmiert! Wer macht hier diesen Krach?!«
»Das ist nur unser Meerschwein!«, sagt der Vater.
»Wie bitte?!«
»Das ist nur unser Meerschwein!«, ruft der Vater.
»Hä?!«
»Das ist nur unser Meerschwein!!«, brüllt der Vater.
»Haha!«, rufen die Polizisten.
»Es ist ein Rosettenmeerschwein!!«, schreit der Vater.
»Das ändert die Sache natürlich!!«, schreien die Polizisten.
»Na, dann: Auf Wiedersehen!!«, brüllt der Vater.
»Spaß beiseite!!«, knurrt der eine Polizist, und der andere stellt einen Fuß in die Tür. »Wenn Sie nicht sofort für Ruhe sorgen, werden wir Sie wegen Lärmbelästigung und Beamtenverspottung …«
»Bitte nicht!«, ruft der Vater, denn er hasst nichts mehr auf der Welt als amtliches Bußgeld. Kurzerhand packt er die röhrende Ruth samt Käfig und rennt zum Auto.
»Ab ins Tierheim!«, schreit er durch den Lärm.
»Bitte nicht!«, ruft Johann.
»Aus diesem Plan wird nichts«, knurrt Ruth. Sie holt tief Luft und lärmt wie ein Überschallflieger, der den Schall durchbricht. In den Ohren des Vaters klingelt es Sturm, und fast wären die Reifen seines Autos geplatzt. Er lässt den Käfig fallen und hält sich die Ohren zu. Ruths Gefängnis poltert zu Boden. Die Drähte verbiegen, die Abdeckung springt auf, und Ruth flitzt davon wie ein flauschiger Mini-Torpedo.
»Tierheim misstrauen, Karibik anschauen!«, grölt sie und rennt schnurstracks in die Richtung, aus der es nach Meer riecht.
Piratenbegegnung
R uth rennt an langen Häuserreihen vorbei und überquert viele breite Straßen. Sie erreicht den Stadtrand. Vor ihr liegen Wiesen, Hecken und Gräben. Dahinter verstellt ein lang gestreckter, grüner Hügel den
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