Ein Jahr in Australien
Februar
Was genau machte ich eigentlich hier? Dies war keine Wohnung, dies war ein Loch. Ein Kakerlakenwanderweg. Ein Verschlag mit rostigen Gittern vor zwei zu kleinen Fenstern. Durch die sah man eine lange Reihe Mülltonnen, und man konnte sie riechen. Würde ich mich mit dem Rücken auf den speckigen Teppichboden legen und den Kopf an die schimmelige Wand schieben, könnte ich dort oben zwischen den beiden Hauswänden ein Stück Himmel erkennen. Aber das sparte ich mir. Ich musste hier raus, und zwar schnell. „Luftig, sonnig, groß, natürlich mit Balkon und wahrscheinlich mit Meerblick“ stand auf der Prioritätenliste für meine zukünftige Wohnung; ich zog schließlich nicht irgendwohin, sondern nach Bondi Beach, Sydney. Nach Australien, auf den einsamsten Kontinent der Welt, mit zwei Menschen pro Quadratkilometer, und nicht 220 wie in Deutschland. Viel rote Erde, Staub und Regenwald, umgeben von Felsen, Sand und leuchtend blauem Meer. Indischer Ozean auf der einen, Südpazifik auf der anderen Seite, und an dessen Ufer eine der schönsten Städte der Welt. In der musste es doch irgendwo zwei charmante Zimmer für mich geben.
Kein Wunder, dass die junge Frau im kleinen Schwarzen sich für das Kabuff nicht selbst herbemüht hatte. „Ramona Real Estate“! Sandrina, Tamsin, Monique – Makler hießen in Sydney nicht nur, als wollten sie unbedingt für eine schlechte Vorabendserie gebucht werden. Sie liefen auch herum, als müssten sie später noch zur Oscar-Verleihung. Für ihrenNamen konnte Ramona vermutlich nichts und Kleidung ist Geschmackssache, aber wir zwei hatten eindeutig ein Verständigungsproblem: „Hell, groß und mit Holzfußboden“, so hatte die High-Heel-Prinzessin das Loch mit Mülleimeranschluss und verfilztem Teppich beschrieben. Dann hatte sie mit azurblau lackierten Fingernägeln den Schlüssel von einem der hundert Haken in ihrem Büro genommen und mir noch ein „You’ll love it!“ nachgeflötet.
Nein, Ramona-Schatz, I love it überhaupt nicht. Im Gegenteil. Ich schlug die Tür zu, steckte den Schlüssel ein und schüttelte mich. Mein Kopf dröhnte, mir fehlte frische Luft und ein Kaffee. Genau, mehr Kaffee. Der vierten Wohnungsfolter an diesem sonnigen Freitag zum Trotz musste ich grinsen. „Weil es in Sydney den besten Macchiato der Welt gibt“, war in den vergangenen Monaten in Hamburg meine Standardantwort gewesen, wenn nicht so nahe Bekannte fragten, warum ich eigentlich ans Ende der Welt ziehen wolle. Die Antwort stimmte natürlich: Der Kaffee in Sydney war großartig. Besser jedenfalls als irgendwo zwischen Elbe und Isar, und ich behaupte: auch besser als an der Adria. Allerdings war das vermutlich nur einer der Gründe dafür, warum ich mir bei 32 Grad in Bondi Beach die Füße nach einer akzeptablen Wohnung wund lief. Warum ich nicht einmal ein Fahrrad hatte, und trotzdem bald die wichtigsten Straßennamen im Schlaf hersagen konnte. Warum ich mich dabei ertappte, wie ich mit Neid jeden Passanten fixierte, in dessen Tasche vermutlich die Schlüssel zu einem Traumapartment mit gitterlosen Fenstern und Meerblick klimperten.
Weitere Gründe waren Wasser, Himmel und Horizont. Das Meer allen voran: jene surfbaren, süchtig machenden Bewegungen, Wellen genannt. Die Farben des Ozeans im minütlich wechselnden Licht, das Gefühl von Sand, Salz und Wind auf der Haut. Die Idee, morgens vor der Arbeit surfen zu können. Dann war da der Himmel, der über Australieneindeutig größer wirkte. Und der Horizont, der auf der Südhalbkugel, auch davon war ich überzeugt, einen weiteren Bogen umspannte als überall sonst auf der Welt. Und daneben gab es noch eine Reihe anderer Gründe, die unter anderem mit Neugierde, Herzklopfen, der Lust auf Neues und der Angst vor Alltag zu tun hatten. Aber all das konnte ich ja nicht jedem Hamburger in einem Halbsatz erklären. Der Kaffee erwies sich als plausible Antwort auf die Frage „Warum um Himmels willen …?“, denn allzu genau wollten die meisten es gar nicht wissen. Die einen konnten es sich denken, die anderen wollten vor allem loswerden, dass sie selbst ja nie so weit wegziehen würden, oder aber genau das immer schon wollten, aber …
Wie auch immer, erst mal musste der Schlüssel des Grauens zurück zur Vorabendserien-Königin. Wie acht weitere Immobilienmakler-Büros lag auch das von Ramona in der Hall Street. Sie führte in schnurgerader Linie bergab zum Strand, war gesäumt von schattigen Bäumen, zwei Buchläden, drei Banken und
Weitere Kostenlose Bücher