Ritual - Höhle des Schreckens
Höhle, das Ungeheuer und die enge Gruft zurück, in der sie lag.
Sie richtete sich, so gut es ging, auf und lauschte ins Dunkel. Reglose Stille ringsum, bis auf das tröpfelnde Wasser. Obwohl ihr Schwindelgefühl anhielt, stemmte sie sich hoch und tastete die feuchten, schlickigen Höhlenwände ab. Sie ging sehr gründlich vor, ließ die Hände vor, zurück und nach oben gleiten, immer in der Hoffnung, irgendwelche Schrunden oder Vorsprünge zu finden, an denen sie sich hochhangeln konnte. Aber die Wände waren vom Wasser glatt geschliffen und so glitschig, dass es unmöglich war, an ihnen hochzuklettern. Und selbst wenn sie aus dieser Gruft gelangen würde, was würde es ihr bringen? Ohne Licht war sie überall eine Gefangene.
Ihre Lage war hoffnungslos. Es gab keinen Weg, der nach draußen führte. Sie konnte nur warten, bis er zurückkehrte. Nein, nicht er, das Ungeheuer.
Das Gefühl, ihm hilflos ausgeliefert zu sein, zerstörte sie physisch. Das Schlimmste war die Verzweiflung, die sie nach der kurzen Phase trügerischer Hoffnung überkam. Sie war, nachdem sie ihre Fesseln abgestreift und sich der Laterne bemächtigt hatte, schon sehr zuversichtlich gewesen. Und nun hatte das Ungeheuer sie in diese Höhle verschleppt, und außer ihm wusste niemand, dass sie hier gefangen war. Sie ahnte, dass er bald zurückkommen würde und dann bestimmt wieder mit ihr spielen wollte. Ein Gedanke, bei dem sie zu schluchzen anfing.
Hier unten, in dieser dunklen, feuchten Gruft, würde ihr armseliges, nutzloses Leben enden. Sie lehnte sich an die nasse Felswand, ließ sich, aller Hoffnungen beraubt, kraftlos nach unten rutschen und fing zu weinen an. So weinte sie das in vielen Jahren aufgestaute Elend aus sich heraus.
Und wieder zogen Bilder und Erinnerungen an ihr vorbei. Sie erlebte im Geiste noch einmal den Tag, an dem sie in der Schule die Prüfung für die Oberstufe bestanden hatte, nach Hause kam und ihre Mutter in der Küche vorfand, wie sie ein Minifläschchen Wodka nach dem anderen in sich hineinkippte. Der Heiligabend vor zwei Jahren fiel ihr ein, an dem ihre Mutter nachts um zwei betrunken und mit einem fremden Mann nach Hause gekommen war. Socken mit Geschenken hatte sie nirgendwo aufgehängt, Weihnachten fiel ganz einfach aus. Sie erinnerte sich an den Tag, an dem sie sich mit dem im Supermarkt verdienten Geld den Gremlin gekauft hatte, und daran, wie wütend ihre Mutter gewesen war, als sie mit dem Auto ankam. Der Sheriff fiel ihr ein, sein widerlicher Sohn, der muffige Geruch, der in den Fluren der Highschool hing, und die Schneestürme im Winter, die ein glattes weißes Laken über die abgeernteten Maisfelder zogen. Sie erinnerte sich an die heißen Sommertage, an denen sie die Nachmittage mit einem Buch in der Hand unter der Hochspannungsleitung verbracht hatte, und an die hämischen Bemerkungen, die sich ihre Mitschüler deswegen auf den Fluren zuflüsterten.
All das war nun bald vergessen, denn sie wusste, dass das Ungeheuer zurückkommen, sie töten und die Erinnerungen an ihr elendes Leben auslöschen würde. Natürlich, irgendwann würde der Sheriff anfangen, nach ihr zu suchen, aber nur halbherzig, sodass er ihre Leiche nie finden würde. Es dauerte wahrscheinlich nicht lange, bis ihre so genannten Freunde und Bekannten sie vergessen hatten. Ihre Mutter würde ihr Zimmer durchsuchen und irgendwann das Geld finden, das die Tochter an der Unterseite der Schreibtischschublade festgeklebt hatte. Und dann würde sie glücklich und zufrieden sein, weil nun all das schöne Geld ihr gehörte.
Bei diesem Gedanken fing Corrie so hemmungslos zu heulen an, dass das Echo lange von den Felswänden widerhallte.
In ihrem Elend suchte sie Zuflucht bei halb verschütteten Erinnerungen an ihre frühe Kindheit. Sie wusste noch, wie sie an einem Sonntagmorgen in aller Frühe aufgestanden und mit ihrem Vater süße Pfannkuchen gebacken hatte. Ihr Vater und sie waren mit den Eiern und den sonstigen Zutaten fröhlich durch die Küche marschiert und hatten dabei laut gesungen wie die Soldaten in Der Zauberer von Oz . Überhaupt, alle Erinnerungen an ihren Vater waren irgendwie mit fröhlichem Lachen und übermütigem Schabernack verbunden. Einmal hatte er sein Auto poliert, ein Mustang Kabriolett, und als er fertig war, hatte er sie hochgehoben, damit sie in der blanken Politur ihr Spiegelbild sehen konnte, und danach hatte er sie zu einer Spritztour mitgenommen. Sie wusste noch, als wäre es gestern gewesen, wie er mit dem
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