Ritus
Raubtiergebiss. Eine Klaue umschloss Pierres Kehle, dann erhob es sich zur Bestürzung der Wildhüter auf seine langen Hinterbeine und war plötzlich so groß wie ein Mensch! Es hielt sein Opfer vor sich in die Luft, als wöge es nicht mehr als ein Sack Federn.
»Lass ihn los!«, verlangte Antoine, zog seine Pistole und richtete sie ebenfalls auf den Kopf seiner Geisel. Er grinste dabei unentwegt. Es schien für ihn kaum mehr als ein Spiel zu sein. »Ihr vertragt bestimmt viel Blei in euren hässlichen Leibern, aber ohne Kopf müsst auch ihr sterben. Habe ich Recht?«
Grollend schleuderte der zweite Werwolf Pierre von sich, der sich mehrmals überschlug und vor den Füßen seines Vaters ohnmächtig liegen blieb. Sein Blut sickerte auf den Waldboden. Jean wagte nicht, sich zu bücken und nach dem Verletzten zu sehen. Die Gefahr war noch lange nicht gebannt.
Antoine fühlte sich dagegen sehr sicher. »Braver Loup-Garou«, höhnte er. »Ich werde dich als mein Haustier halten.« Er leckte sich über die Lippen, seine Augen wurden schmal. »Aber das würde meinem Vater nicht gefallen.«
»Nein! Tu es nicht«, raunte Jean vorahnungsvoll. »Reize ihn nicht.«
»Du bist doch der Meinung, dass nur ein toter Wolf ein guter Wolf ist.« Ohne mit der Wimper zu zucken, schoss Antoine dem liegenden Werwolf die Ladungen beider Läufe in den Kopf. Der breite Schädel zerbarst in einer Wolke aus Blut. Allein der Druck der Treibladungen hätte ausgereicht, den Kopf zu zerfetzen, die Kugeln taten ihr Übriges dazu. Es blieb nichts außer Resten des Unterkiefers und der hinteren Schädelpartie zurück. Dennoch tobte der Kadaver wie lebendig, schlug um sich, bäumte sich auf, rollte in seinem Blut umher, die Klauen rissen die Erde auf, schlugen nach dem Feind. Dreck und Blätter stoben herum. Lachend sprang Antoine von dem sterbenden Wesen weg und hob seine Pistole.
Jean verfluchte die unberechenbare Art seines jüngeren Sohns. Er ahnte, wie der betrogene Werwolf handeln würde. Er drückte ab, spürte den Rückstoß gegen seine Schulter und sah die weiße Pulverwolke aufsteigen, die ihm wegen eines ungünstigen Windes die Sicht raubte.
Die aufgellenden Schreie Antoines sagten ihm, dass die Bestie bereits Rache nahm. Ohne zu zögern, hob er Pierres geladene Muskete auf und rannte dorthin, wo sich Mensch und Kreatur auf der Erde wälzten.
Sein Sohn rang mit den Kräften eines Giganten und schaffte es trotzdem nicht, den Angreifer von sich zu stoßen; auch die tiefen Stiche des Dolchs, den Antoine zur Verteidigung benutzte, beeindruckten die Bestie nicht. Ihre Fänge bissen tief ins Fleisch des Unterarms und drängten dann nach der Kehle des jungen Mannes.
Jean handelte instinktiv. Die Angst um seinen Sohn, missraten oder nicht, überwand den Schock und alle lähmenden Gefühle. Er drosch den Kolben der Waffe mehrmals hart in den Nacken des Werwolfs und brachte ihn dazu, von Antoine abzulassen. Die roten Augen wandten sich ihm zu, die weit geöffnete Schnauze flog heran.
Jean lief rückwärts und schoss auf der Bestie. Sie kreischte und stürmte als Schrecken erregende Silhouette weiter auf ihn zu. Als sie den Pulverdampf durchbrach, erkannte Jean deutlich die beiden Einschusslöcher auf Höhe des Herzens. Doch die Wunden schlossen sich bereits!
»Verschwinde!«, schrie er voller Verzweiflung und rammte den Lauf in den zahnbewehrten Schlund. Das Metall traf auf Widerstand und durchstieß etwas, das Wesen gab einen gurgelnden Laut von sich – und wich tatsächlich zurück.
Unschlüssig stand der Werwolf in seiner ganzen Scheußlichkeit auf den langen Hinterbeinen. Er knurrte und fauchte gleichzeitig, die kurzen Ohren waren steil nach oben gerichtet, der Schwanz peitschte.
Da krachte ein Schuss durch den Wald.
Die Kugel fuhr der Bestie seitlich durch die Schnauze, eine rote Fontäne sprühte augenblicklich los, bespritzte den Wolf und Jean. Schrill heulend stieß sich das Wesen vom Boden ab – und sprang sieben Schritte weit in den Schutz der Baumstämme, zwischen denen bereits die Dunkelheit regierte.
»Fahr zur Hölle, Loup-Garou!«
Antoine, die Kleidung in blutigen Fetzen am Körper, hatte sich am Stamm der Buche aufgesetzt, sein linker Arm senkte sich zitternd, die rauchende Pistole sackte nach unten. »Fahr zur Hölle«, wiederholte er leise. Seine Augenlieder flatterten und schlossen sich. Er hatte das Bewusstsein verloren.
Die unheimliche Stille, die vor dem Angriff der Bestie Einzug gehalten hatte, dauerte an. Noch
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