Rixende ... : Historischer Roman (German Edition)
vorband. Deswegen versagte sie es sich auch, mehr als einen Blick auf die Leichen zu werfen, die die Soldaten überall auf Haufen geworfen hatten, vielleicht um sie zu zählen oder später zu verbrennen. Sie hatte auch sofort bemerkt, dass einige von wilden Tieren angefressen waren. Dass sich Simon darunter befinden musste, wollte sie nicht wahrhaben.
Im Steinernen Wald lagen weitere Leichen verstreut. Es war, als ob man sie einfach dort liegengelassen hatte, wo sie vor Schwäche umgefallen waren. Mehr als einmal verscheuchte sie mit ihrer Fackel allerlei Getier, das auf der Suche nach Nahrung war. Nach einigem Umherirren fand sie endlich den hohen Stein. Sie holte Simons Pergament hervor und studierte ein weiteres Mal die seltsame Zeichnung. Dann versuchte sie, die Skizze auf dem Pergament mit ihren Händen umzusetzen, wie es dort aufgezeichnet war. Ein triumphierendes Gefühl bemächtigte sich Rixendes, als der Stein tatsächlich mit einem seltsamen Ächzen zur Seite schwenkte und den Eingang freigab. Doch schon beim Hinuntersteigen löste ein neuerliches Entsetzen jegliche Euphorie ab. Auch dort unten lagen Leichen. Die gleichmäßige Temperatur in der Tiefe hatte sie aber so gut erhalten, dass man zum Teil noch ihre Gesichtszüge erkennen konnte. Hier stank es sonderbarerweise nicht, im Gegenteil, ein seltsamer Wohlgeruch lag über all dem Grauen, was Rixende nicht wenig verwunderte. Sah man einmal von den Toten ab, so hatte sich kaum etwas verändert. Die Getreidesäcke jedoch und alle anderen wertvollen Güter, die Öfen, Webstühle und Gerätschaften, die die Katharer in die Höhle geschafft hatten, waren samt und sonders verschwunden. Dass die Soldaten auch diesen gut versteckten Teil der Höhle entdeckt hatten, ließ nur einen Schluss zu: Es hatte einen Verräter gegeben. Denn wie sich der Stein bewegen ließ, war sicherlich nur wenigen bekannt gewesen.
Als Rixende nach weiterem Herumirren in den verschiedenen Gängen der unteren Höhle endlich den Ort wiederfand, an dem die Strickleiter verborgen war, war sie erleichtert, obwohl ihr der schwerste Teil dieser Mission noch bevorstand. Sie hätte etwas darum gegeben, Aucassinne an ihrer Seite zu haben. Doch leider war er kein parfait, sondern nur ein einfacher croyant und daher nicht in die Geheimnisse der katharischen Kirche eingeweiht. Rixende war weder das eine noch das andere, aber sie war die Hüterin. Also würde sie allein zu Ende bringen, was zu Ende gebracht werden musste.
Die junge Frau nahm all ihren Mut zusammen und kletterte, den Lederbeutel mit dem Katharerschatz auf dem Rücken, zum unterirdischen See hinunter. Die Strickleiter, die dieses Mal von niemandem gehalten wurde, schaukelte beträchtlich. Unbeschadet, jedoch unter heftigem Herzklopfen, kam sie unten an, wo sie sich ohne Zögern am sandigen Ufer des Sees entlang auf den Weg zur geheimnisvollen runden Grotte machte. Unerschrocken schritt sie durch den Wasserfall, und dann lag sie vor ihr, die runde Grotte, die selbst jetzt noch Erhabenheit ausstrahlte. Vorsichtig nahm Rixende das Kästchen aus dem Beutel, öffnete es und blickte auf die Goldkapsel mit den Geheimen Worten. Feierlich nahm sie die Kapsel in ihre Hände und schritt mit ihr zum Altar, jenen Platz, den ihr Vater nach seiner Flucht vom Montségur ausgewählt hatte. Sie stellte die Kapsel in den Goldenen Reifen, fiel auf die Knie und betete.
Als sie nach einer Weile wieder die Augen öffnete, bemerkte sie, wie sich erneut dieser seltsame Nebel auf den Behälter gesenkt hatte, und sie dachte bei sich, dass es eine kluge Entscheidung war, den Katharerschatz wieder hierher zurückzubringen.
Irgendwann in der Zukunft würden die Geheimen Worte Jesu die Wahrheit verkünden. Bis es so weit war, durften sie nicht als Druckmittel missbraucht werden, mit dem Päpste, Könige oder auch nur Menschen wie Abbéville, Macht über Schwächere ausübten.
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Und bald verrät die Ernte, wie verheeret
die Aussaat war, wenn heulen musst die Spreu ...
Dante, Die Göttliche Komödie
„Verdient unverschuldeter Unglaube Verdammnis?“
Nogaret und des Königs Beichtvater, der Großinquisitor von Paris, Wilhelm Imbert, waren in Streit geraten. Im Beisein Philipps des Schönen, der höchstselbst seine Jagdhunde ausführte, ergingen sie sich vor der Abendmesse im Labyrinth, wobei sie heftig disputierten. Die Sonne war gerade im Begriff unterzugehen, und endlich streifte nach des Tages Glut ein kühler Hauch über ihre Gesichter.
„Stirbt
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