Rolf Torring 098 - Indische Märchen
Rolf versprach, daß wir auf „diesem" Spaziergang nicht an Flucht denken würden.
Auf dem „Fahrstuhl", der von unserem Zimmer in die Tiefe führte, gelangten wir in einen kleinen Raum, der eine Tür nach dem Garten hatte. Der junge Inder blieb im Garten stets drei Schritte hinter uns; an jeder Hand hielt er einen Leoparden an einer Lederschnur. Wenn wir den Versuch gemacht hätten zu entfliehen, hätte er nur die Leoparden auf uns zu hetzen brauchen — wir wären nicht weit gekommen.
Rolf machte einen großen Umweg, bevor er sich dem Gebüsch näherte, an dem die junge Inderin gestanden hatte. Er deutete auf die Blüten und fragte den jungen Inder, ob es erlaubt sei, daran zu riechen, was dieser harmlos bejahte. Da nahm er eine Blüte und brachte sie nahe an sein Gesicht heran. Seine Augen wanderten von Blüte zu Blüte, bis er die richtige gefunden hatte. Auch die zog er etwas herunter, betrachtete sie bewundernd und machte mich laut auf die eigenartigen Formen der Blütenblätter aufmerksam. Dabei holte er aus dem Kelch der Blüte geschickt einen Zettel hervor und ließ die Nachricht der Inderin unbemerkt in seine Tasche gleiten.
Wir blieben noch eine volle Stunde im Garten. Rolf hatte mit einem Male sein Interesse für exotische Blüten entdeckt, er zeigte mir da einen bizarren Kelch, dort eine seltene Farbe, bewunderte dies und bewunderte das und gab schließlich das Zeichen, daß wir für heute genug spazieren gegangen wären und auf unser Zimmer zurück möchten.
Auf dem Wege, auf dem wir den Garten erreicht hatten, wurden wir zurückgebracht.
Kaum waren wir allein, ging Rolf in eine Ecke des Zimmers und holte den Zettel hervor. Wir lasen gleichzeitig, was da geschrieben stand:
„Wenn Sie wieder nach Manipur zurückkommen, sprechen Sie bitte offen mit dem Professor! Sagen Sie ihm, daß ich es erlaube! Wenn es irgend möglich ist, werde ich Ihnen und Ihren Gefährten heute nacht den Weg in die Freiheit öffnen. Zögern Sie nicht, ihn zu beschreiten! Sie erfahren in Manipur mehr als hier!
Ellen S."
Rolf steckte den Zettel in die Rocktasche zurück und lachte in sich hinein. Auf meine verwunderte Frage, weshalb er lache, meinte er nur, daß sich das Geheimnis schon langsam zu lüften beginne; seine Ahnungen würden sich wohl bewahrheiten.
„Die Unterschrift stammt bestimmt von keiner Inderin, Rolf! Auch der englische Text ist völlig fehlerfrei," bemerkte ich.
„Der Brief ist zweifellos von einer Engländerin geschrieben," sagte Rolf.
„Du meinst also, daß eine Engländerin hier gefangengehalten wird, die den Brief geschrieben hat und ihn durch die junge Inderin in der Blüte verstecken ließ?"
„Nein, Hans, gefangengehalten wird hier niemand, und die Inderin — aber ich will dir die Überraschung nicht vorwegnehmen!"
Ich bat Rolf, seine Meinung ganz zu sagen, er lehnte jedoch lächelnd ab.
„Denke selber darüber nach, Hans! Die Lösung ist ganz einfach, so einfach, daß ich schon beim Mittagessen darauf gekommen bin. Still jetzt! Das Abendbrot wird gebracht."
Lautlos erschien das Tischlein-deck-dich. Wir ließen uns die herrlichen Speisen schmecken und sprachen über gleichgültige Dinge, da wir befürchteten, daß unser Gespräch mitgehört werden könnte.
Zwei Stunden nach der Mahlzeit legten wir uns auf den seidenen Kissen zur Ruhe nieder. Kaum lagen wir ein paar Minuten, wurde das Licht gelöscht. Daraus konnten wir wieder erkennen, daß wir beobachtet wurden.
Wir dachten nicht daran, zu schlafen, sondern warteten auf unsere Befreierin, die „vielleicht" kommen würde. Stunde um Stunde verging, ohne daß wir das Geringste vernahmen.
Endlich nach Mitternacht hörten wir ein leises Knacken. Jemand schien im Zimmer zu stehen. Undeutlich erkannte ich eine Gestalt, wußte aber nicht, ob es die Inderin war. Ich lag ganz still. Auch Rolf bewegte sich nicht.
Leise schlich die Gestalt zu Rolf hin, nur für Sekunden, dann lief sie zurück und — verschwand.
Rolf erhob sich rasch und ging zur Mitte des Zimmers. Ich stand eine Sekunde später neben ihm. Darauf sanken wir in die Tiefe.
Die Tür zum Garten fanden wir offen und beeilten uns, hinauszukommen. Immer in guter Deckung liefen wir zur Mauer, überkletterten sie und befanden uns mitten im dichtesten Dschungel. Ohne lange Überlegung ging Rolf nach links an der Mauer entlang. Da tauchten plötzlich
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