Rolf Torring 125 - Der Unheimliche
gereicht hatte und er sich das Fleisch mit den Knochen gut schmecken ließ. Genießerisch — möchte man sagen — strich er mit seiner langen, rauhen Zunge über die Fleischstellen, später erst zermalmte er die weichen Knochen zwischen den Backenzähnen.
Als der Tee gezogen hatte, nahmen wir das Abendbrot zu uns. Der Landessitte entsprechend, wurde dabei nicht gesprochen.
Erst nach der Mahlzeit fragte Fu Juing: „Meinen Sie, daß an den Erzählungen über den 'Unheimlichen' etwas Wahres sein könnte?" Rolf antwortete sofort wahrheitsgemäß:
„Wir haben so viel über das eigenartige Wesen gehört, daß wir seinetwegen in diese Gegend gekommen sind."
Ich wunderte mich, daß er so offen sprach. Wir wußten ja noch gar nichts Näheres über den Arzt Fu Jung.
Der Mandschure sann ein paar Augenblicke vor sich hin, dann meinte er:
„Ich mußte diesen Weg über das Gebirge wählen, da mir — offengestanden — die Mittel fehlen, einen anderen Weg oder eine andere Beförderungsart zu benutzen. Natürlich wollte ich ganz allein reisen, aber meine Tochter hatte solche Angst um mich, daß ich ihr auf ihre Bitten hin schließlich nicht abschlagen konnte, mich zu begleiten. Wenn wirklich etwas Wahres an den Erzählungen über den ,Unheimlichen' sein sollte, bin ich wenigstens mit meinem Mädel nicht allein. Deshalb freut es mich sehr, daß wir zusammen reisen können."
„Ist Ihr Bruder auch Arzt, wenn ich mir die Frage erlauben darf?"
„Nein, meine Herren, mein Bruder ist Kaufmann. Er bat mich durch einen Boten, ihm Geld zu schicken, eine bestimmte Summe, die er im Augenblick sehr dringend brauche. Ich sollte den Betrag dem Boten mitgeben. Der Bote aber machte auf mich keinen besonders zuverlässigen Eindruck; so entschloss ich mich, die Reise selbst zu unternehmen."
„Wenn ich ganz offen sein darf," warf ich ein, „war in Ihren Worten ein Widerspruch, Sie sprachen davon, daß Ihre Mittel Sie zwängen, die Wanderung über das Gebirge zu unternehmen, statt ein anderes Verkehrsmittel und einen anderen Weg zu wählen. Dessen ungeachtet können Sie Ihrem Bruder eine doch wahrscheinlich größere Summe Geld leihen."
„Nicht leihen," schüttelte der Mandschure den ergrauten Kopf, „— bringen! Das Geld ist sein Eigentum! Ich hatte es für meinen Bruder nur in Verwahrung. Ich habe die Summe bei mir. Ich würde Ihnen das übrigens alles gar nicht erzählen, wenn ich nicht sofort den Eindruck gehabt hätte, daß man Ihnen vertrauen darf. Bis jetzt habe ich mich auf meine Menschenkenntnis noch immer verlassen können."
„Sie können beruhigt sein, Sie haben es in uns mit ehrlichen Menschen zu tun," lächelte Rolf. „Eine andere Frage aber: Hatten Sie den Boten, der das Geld gleich mitnehmen sollte, noch nie gesehen?"
„Nein, Herr Torring, er war mir ganz unbekannt. Ich wunderte mich sofort, daß mein Bruder nicht seinen Diener schickte, den ich seit Jahren kenne. Ihm hätte ich den Betrag bedenkenlos mitgegeben."
„Erzählten Sie dem Boten, welchen Weg Sie nach Kirin benutzen wollten?" fragte Rolf weiter.
„Nein, ich beriet mich erst mit ein paar Bekannten darüber, die mir allerdings sämtlich abrieten, über das Gebirge zu reiten. — Sie fragen übrigens so, als ob Sie die Erzählungen über den ,Unheimlichen' nicht für phantastische Märchen hielten."
„Ihre Erzählung von dem Boten und das, was wir schon über den ,Unheimlichen' gehört haben, der vor allem Einzelreisende überfallen und ausplündern soll, machen mich stutzig."
„Man braucht nicht weit zu kombinieren, um zu wissen, Herr Torring, daß Sie also den Boten für einen Komplicen des ,Unheimlichen' halten."
„Hat Ihnen Ihr Bruder die Bitte schriftlich ausgesprochen? Oder überbrachte der Bote das Anliegen nur mündlich?" wollte Rolf noch wissen.
„Mein Bruder hat mir einen Brief geschrieben. Das heißt: eigentlich ist das unrichtig, was ich soeben sagte. Er teilte mir in einem Schreiben mit, daß er sich die Hand verletzt habe und nicht selbst schreiben könnte."
„Das besagt eigentlich alles!" rief Rolf leise. „Bei Ihrer Abreise sind Sie natürlich beobachtet worden, und der ,Unheimliche' weiß jetzt genau, daß Sie den Weg über das Gebirge gewählt haben."
„Dürfen wir das Schreiben einmal sehen?" fragte Professor Kennt.
Fu Jung holte aus seiner Kleidung einen Brief hervor, den er uns schweigend
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