Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)
Millionen von anderen durchgesetzt,
… und hätte nicht eine Hebamme dem 1300 Gramm wiegenden Leichtgewicht gerade noch rechtzeitig die um den Hals gewickelte Nabelschnur entfernt,
… dann gäbe es mich gar nicht.
Gleich Milliarden von zum Leben berufenen und doch ungeborenen Wesen hätte ich die Eintrittsprüfung ins Leben nicht bestanden. Und wie hätte sich das ausgewirkt?
Am bedeutendsten ist, dass meine Tochter nie geboren wäre.
Meine Frau, mit der ich schon so lange zusammen bin, hätte ein ganz anderes Leben geführt.
Meine Eltern, meine Geschwister, meine Freunde und überhaupt alle, mit denen ich irgendwie im Austausch stand, hätten so viel Gutes und Schlechtes mit mir nicht erlebt und nichts davon gemerkt.
Auf die Welt zu kommen und zu existieren ist ein Wunder, das die meisten Menschen als Selbstverständlichkeit hinnehmen.
Wer dieses Wunder vernichtet und sich dessen womöglich noch rühmt, weiß gar nicht, was er tut. Aber es gibt Menschen, die über das Wunder nachdenken, und die werden dann manchmal von einer Existenzangst gepackt, und wenn sie in den Spiegel sehen, kommt das zurückblickende Gesicht ihnen oft genug fremd vor.
Was hat das »Ich« zu bedeuten? Was ist unser Bewusstsein? Nichts weiter als eine chemische Funktion? Oder hat unser Dasein einen tieferen Sinn?
Existiert man erst einmal, so kann man nicht in die Kategorie der Nichtexistenz zurück, denn der Tod vernichtet einen nicht ganz. Durch seine physische und biologische Existenz hat man auf die Welt eingewirkt und sei es auch nur in minimalem Ausmaß, und man hat andere Lebewesen beeinflusst.
Je nach seinem kulturellen Umfeld bekommt man einen Namen verpasst, der dann allmählich mit dem Ich verschmilzt. Man hält diesen Namen für einen veritablen Teil seiner Existenz, doch genügt es, sich ihn zwanzigmal hintereinander vorzusagen, und schon wird er einem fremd. Verblüfft merkt man dann, wie wenig der eigene Name mit einem selbst zu tun hat.
Ob es wohl jemanden gibt, den nie ein existenzieller Schauder durchfährt? Wohl kaum. Den einen plagen seltsame Träume, der andere wird ganz unvermutet von scheinbar unbegründeten Ängsten oder melancholischen Anfällen gepackt. Es denken nur manche nicht weiter darüber nach.
Durch den Zufall meiner Geburt konnte ich dieses Buch schreiben, das durch den Zufall Ihrer Geburt nun Sie in Händen halten: die Begegnung zweier kleiner Meteore in der Unendlichkeit des Alls.
Würden unsere Erinnerungen bis in die Gebärmutter zurückreichen, so könnten wir uns darüber austauschen, wie es uns dort erging, was für Töne wir vernahmen, was wir im Geburtskanal zu erleiden hatten und wie das erste Licht auf uns wirkte, und wir würden dadurch erkennen, wie sehr wir uns doch gleichen. So aber lassen wir unsere Geschichte erst da beginnen, wo die grauen Zellen mit der Aufzeichnung anfangen.
Gelernt habe ich im Leben Folgendes:
Anderen nützlich zu sein ist einer der größten Schätze überhaupt, wie in dem Gedicht von Nâzım, in dem ein Mann noch im Sterben einen Olivenbaum pflanzt.
Es gilt zu unterscheiden zwischen dem Vergänglichen und dem Bleibenden. Trotz all seiner Fehler kann man sich behaupten, wenn man der Zeit widerstehende, an Generationen weiterzugebende Werke geschaffen hat. Mag auch meine Umtriebigkeit mich zu manchem Missgriff verleitet haben, so wurde ich doch gerettet durch meine Bücher und meine Lieder.
Ruhm und Glück sind wie Feuer und Schnee. Der Schnee muss sich sehr vor dem Feuer hüten.
Unsere Erde ist ein Nichts im großen Kosmos. Das kleine Leben, das wir in einem Eckchen davon führen, brauchen wir nicht überzubewerten.
Seit ich begriffen habe, dass der Glaube ein Anzappeln gegen den Tod ist, übe ich an wahrhaft Glaubenden keine Kritik mehr. Wer aber den Glauben zu politischen Zwecken missbraucht, ist mir mehr zuwider denn je.
Wahrer Erfolg ist ein Nebenprodukt. Strebt man Erfolg an, wird er einem nicht zuteil, doch vergisst man ihn und verschreibt sich guter Arbeit, so kommt er von allein.
Auf Modeerscheinungen in Philosophie, Politik und Kunst ist nicht viel zu geben. Die Zeit bewahrt nur echte Werke.
Am besten wäre es zu leben, ohne sich Feinde zu schaffen. Auch wenn man mit ihnen fertig wird, ist es doch eine ewige Last, sie sich vom Hals zu halten.
Wahre Künstler beschäftigen sich nur mit ihren eigenen Werken und blicken nicht neidvoll auf diejenigen anderer.
Die Welt zu verändern ist wahrhaft schwer.
Die Menschen sind
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