Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)
konnte man der Stadt kaum erweisen. Wie Paris oder Rom musste Istanbul eine Kulturstadt sein und in den Dienstleistungssektor investieren.
Nachdem ich meine Kandidatur erklärt und mein Programm veröffentlich hatte, ging es laut den Meinungsumfragen mit den Stimmen der SHP bergauf, und bald galt ich selbst in den der Regierung nahestehenden Zeitungen als Favorit. Daraufhin prasselte von vielerlei Seiten ein Hagel von Beschuldigungen auf mich herein. So hieß es unter anderem, ich hätte in Athen einmal eine türkische Fahne verbrannt. Auch wurden mir die Lieder vorgehalten, die ich damals gegen die Putschisten vom 12. März 1971 gesungen hatte; dabei war ich stolz auf diese Lieder und keineswegs bereit, sie zu verleugnen. Schließlich erschienen auch jene Fotos in der Zeitung, die damals die Stockholmer Polizei von mir gemacht hatte. Ich konnte mich nur wundern, wie die türkische Presse überhaupt daran gelangt war, denn eigentlich konnte dies nur über staatliche Kanäle der Fall sein. In einem wahrhaft demokratischen Land hätte dies einen Skandal ausgelöst, doch bei uns wurde es schlicht übergangen.
Am Morgen der Wahl fuhr ein Mitglied der SHP die Wahllokale ab und kam mit einer ernüchternden Feststellung zurück: »An den meisten Urnen sitzt kein Vertreter von uns.«
Zwar hatten sich viele SHP -Freiwillige im Wahlkampf vorbildlich eingesetzt, aber dieser eine wichtige Punkt war vernachlässigt worden. Ohne eine Überwachung der Stimmurnen ließ sich keine politische Wahl gewinnen. Die Stimmauszählung zog sich über drei Tage hin, und wie sich herausstellte, kam es dabei zu den eklatantesten Manipulationen. Es riefen uns Leute an und klagten, in dem Wahllokal, in dem sie uns gewählt hatten, sei keine einzige Stimme für die SHP gezählt worden. Da wir als Favorit gegolten hatten, schadeten uns diese Fälschungen am meisten, doch auch die Kreise, die der konservativen ANAP zu einem Wahlsieg hatten verhelfen wollen, hatten sich verrechnet, denn laut dem offiziellen Wahlergebnis lagen die Islamisten mit 25,6 Prozent an der Spitze, während auf uns 20,3 Prozent entfielen. Somit hatten wir zwar unsere ursprünglich vorhergesagte Stimmenzahl trotz allem fast verdreifacht, doch wegen der Uneinigkeit der Linken triumphierte letztlich die Refah-Partei.
Dennoch sollte ich mich sechs Jahre später auf ein zweites Politabenteuer einlassen, diesmal für die CHP , mit der die SHP mittlerweile fusioniert hatte. Ich wurde zum Parlamentsabgeordneten gewählt, was mich aber schon bald reuen sollte, denn schon kurz nach den Wahlen begann die Partei von ihrem bis dahin verfolgten sozialdemokratischen Kurs in immer nationalistischere Gefilde abzudriften. Ich hatte schon seit 1998 davor gewarnt, dass sich die Türkei durch ein Abschleifen des Links-Rechts-Gegensatzes immer mehr auf eine dreipolige Gesellschaft zubewege, innerhalb derer die Menschen sich vor allem durch den Islam, durch ihr Türkentum oder ihr Kurdentum definierten. Als die CHP Beschlüsse fasste, die ich nicht mittragen konnte, trat ich schließlich aus der Partei aus und verblieb als unabhängiger Abgeordneter im Parlament. Meine daraufhin sehr beschränkten Möglichkeiten verwandte ich auf einige Anliegen, die mir besonders am Herzen lagen, etwa den Kampf gegen den Artikel 301 des türkischen Strafrechts, laut dem man wegen »Verunglimpfung der Türkei« zu empfindlichen Strafen verurteilt werden konnte. Ich kritisierte auch die Haltung der Türkei in der Armenierfrage und wandte mich gegen die Verschmelzung des Kultur- und des Tourismusministeriums.
Letztendlich bin ich zu dem Schluss gekommen, dass ein Künstler sich am Besten durch seine Kunst ausdrückt und nicht durch Schreiben, Reden oder politische Aktivität, denn es besteht sonst ein hohes Risiko, missverstanden zu werden.
Ich hätte, wenn überhaupt, zu Beginn der neunziger Jahre eine eigene Partei gründen und damit einen Neuanfang wagen sollen, ohne von den Strukturen einer etablierten Partei aufgefressen zu werden. Aber man macht ja nicht immer alles richtig.
Das einzige politische Engagement, das ich nie bereut habe, ist meine Tätigkeit als UNESCO -Botschafter. Meine erste Aufgabe waren Verhandlungen mit mehreren Staaten, um bosnischen Kindern, die wegen des Bürgerkriegs nicht zur Schule gegangen waren, so schnell wie möglich zu Unterricht zu verhelfen. Wie jemand es einmal ausdrückte, war die Wahl zum UNESCO -Botschafter mein echter Wahlerfolg.
A ls meine Großmutter mich
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