Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)
damals ihr »Ziegenböcklein« nannte, das einsam wie eine Bergziege dastehe und keine Schuld verbergen könne, ahnte sie nicht, wie Recht sie damit haben sollte. Zumindest sehe ich das heute mit meinen 65 Jahren so, wenn ich auf mein Leben zurückblicke. Mir kommt es so vor, als ob ich mehr als ein halbes Jahrhundert nur gelebt hätte, damit ihre Vorhersage Tag für Tag einträfe.
Ich habe sowohl Einsamkeit kennengelernt als auch große Menschenmengen, Liebe und Freundschaft genauso wie Feindschaft und Wut.
Am meisten bin ich mein Leben lang gefragt worden, warum ich mich in so vielen Kunstsparten versucht habe, und ich antwortete dann, die auf Samos wirkenden griechischen und ionischen Philosophen seien zu dem Schluss gekommen, alle Künste und Wissenschaften seien miteinander verbunden. Von meinem Recht darauf, alles auszuprobieren, sprach ich auch oft, und dennoch trifft das alles nicht den Punkt. Die Antwort ist, dass mir das alles unermessliche Freude bereitet hat.
Gibt es etwas Schöneres, als mitzuerleben, wie ein Stück, das man zu Hause komponiert hat, im Studio allmählich Gestalt annimmt und schließlich von Millionen von Menschen gesungen wird? Oder wie eine Szene, die anfangs nur als vage Vorstellung existierte, auf Zelluloid gebannt wird und dann auf der Leinwand abläuft wie ein Stück echtes Leben? Oder wie ein Roman, den man in völliger Einsamkeit zu Papier gebracht hat, schließlich Menschen in fernen Kulturen erreicht?
Ich glaube nicht, dass es im Leben etwas gibt, das sich mit solchen Genüssen messen könnte. Und deshalb möchte ich in dem einen Leben, das mir zur Verfügung steht, so viel wie möglich ausprobieren. Ob es nun anderen gefällt oder nicht.
Solange ich noch Hörer, Leser und Zuschauer habe, werde ich weitermachen. Wem nicht zusagt, was ich schaffe, den bitte ich nur um eines: mich einfach zu vergessen.
Die Seiten meiner Romane haben sich in den letzten Jahren wie die Schwingen eines Märchenvogels ausgebreitet und mich in verschiedenste Weltteile getragen, während die Noten meiner Lieder wie auf Schienen in ferne Kulturen vorgestoßen sind. Während manche Leute mich an Leib und Seele vernichten wollten, haben andere mir hohe Ehren erwiesen. Die unter dem Bett im Kerzenschein gelesenen Bücher haben dazu geführt, dass ich heute vielerorts an Universitäten Vorträge halte. Und gar nicht weit von dem Ort, wo ein unmenschliches Regime mich zerquetschen wollte, ist es mir vergönnt gewesen, mit den in verlorener Zeit komponierten Liedern mein größtes Konzert zu geben.
Neben der Freundschaft mit großen Künstlern ist mir auch die Feindschaft vieler kleiner Männer zuteil geworden, die mich zu aller Zeit am Schreiben und am Komponieren hindern wollten.
Selbst vermeintliche Freunde, die in guten Tagen mit mir feierten, schrieben später seitenweise Lügen über mich. Wenn ich diese dann las, dachte ich mir oft erschrocken: »Was müssen diese Menschen mit mir mitgemacht haben!«
Wer weiß, was an Gutem und Schlechtem mir noch widerfahren wird? Wie heißt es doch bei Schopenhauer: »Wir gleichen den Lämmern, die auf der Wiese spielen, während der Metzger schon eines und das andere von ihnen mit den Augen auswählt; denn wir wissen nicht, in unseren guten Tagen, welches Unheil eben jetzt das Schicksal uns bereitet.«
Schon jetzt ist mir ja das Wunder allen Daseins bewusst.
Denn:
… hätte im osmanisch-russischen Krieg von 1878 der im Regierungsbezirk Livane lebende Pferdezüchter Yusuf Ağa, bevor er mit seiner Familie von den Russen getötet wurde, nicht noch seinen Sohn Ömer zu Ahmet Muhtar Paşa nach Erzurum geschickt,
… und wäre dieser Ömer, nachdem er den Kommandaten der unterdrückerischen russischen Besatzungstruppen getötet hatte, nicht im Lazarett durch Hungern und Einschmieren der Haut mit Teer so unkenntlich geworden, dass der Augenzeuge der Tat ihn nicht identifizieren konnte,
… und hätte Hauptmann Ömer, nachdem er nach Harput versetzt worden war, dort nicht eine Frau namens Ümmü Gülsüm geheiratet,
… und wäre aus dieser Ehe nicht ein Sohn namens Zülfikâr hervorgegangen,
… und wäre dieser Zülfikâr nicht Richter geworden und hätte mit seiner Frau Emine nicht einen Sohn namens Mustafa gezeugt,
… und hätte dieser Mustafa an seiner ersten Dienststelle als Staatsanwalt nicht im Garten des Gerichtsgebäudes ein hübsches dunkelblondes Mädchen gesehen,
… und hätte nicht ein ganz bestimmtes Spermium sich gegen
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