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Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)

Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)

Titel: Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zülfü Livaneli
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Straßensperren errichtet worden, denen gegenüber Polizei und Militär mit gepanzerten Fahrzeugen in Stellung gegangen waren. Als ich von den aufgebrachten und nach Unterstützung gierenden Bewohnern erkannt wurde, schwappte eine ganze Welle von Menschen über die Sperren, und ehe ich mich’s versah, wurde ich von den Leuten in das Viertel hineingetragen. Weitab von den Sicherheitskräften setzten sie mich wieder ab und herzten und küssten mich.
    Ich kletterte auf ein Baugerüst und rief zu der Menge: »Ich kann euren Schmerz verstehen, aber ich bitte euch: Lasst euch nicht provozieren!«
    Später kamen so viele Leute auf mich zu, dass ich geschützt werden musste, um nicht erdrückt zu werden. Aus den unverputzten, halbfertig wirkenden Häusern links und rechts der Straße sahen verschreckte Kinderaugen heraus. Man hätte meinen können, wir seien nicht mitten in Istanbul, sondern im bürgerkriegsgeplagten Beirut.
    Empörte Menschen riefen mit sich überschlagenden Stimmen auf mich ein: »Die bringen uns um, Zülfü! Die wollen hier einen nach dem anderen kaltmachen. Wir müssen uns auch bewaffnen, damit wir kämpfen können. Ums Leben kommen wir ja so und so. Und wir sind doch auch stark. Wir sind 20 Millionen!«
    Ich versuchte sie zu besänftigen: »Auf so etwas warten die doch nur. Das ist ein Komplott, darauf dürft ihr nicht hereinfallen.«
    Eine alte Frau bahnte sich einen Weg durch die Menge und fiel mir weinend um den Hals: »Hilf uns bitte, wir haben doch sonst niemand! Lass nicht zu, dass die uns umbringen!«
    Ich war furchtbar gerührt von alledem. Etwa einen Kilometer lang wurde ich dann von der Menschenmasse mitgezogen, bis wir vor dem Kaffeehaus ankamen, auf das geschossen worden war. Mit den großen Einschusslöchern an Scheibe und Wänden machte es einen desolaten Eindruck. Man glaubte, in dem halbdunklen Raum förmlich zu spüren, dass es hier Menschen getroffen hatte, die seit Jahrhunderten immer wieder unter Unterdrückung litten.
    Von da gingen wir zum Versammlungsraum der alevitischen Gemeinde, wo es ein Mikrofon und Lautsprecher gab. Ich versuchte wieder, die Leute zu beruhigen. »Ich teile euren Schmerz, ihr seid nicht allein. Ich möchte euch bitten, dass ihr heute, wenn die Särge der Getöteten hierher gebracht werden, Ruhe bewahrt und euch nicht provozieren lasst.«
    Von den Behörden ließ sich niemand blicken, auch kein Politiker. Zur Polizei, die bereits mehrfach das Feuer eröffnet hatte, konnten die Leute im Viertel kein Vertrauen mehr fassen. Sie verlangten, dass die Polizeieinheiten abgezogen würden und die Sicherheit nur durch Soldaten gewährleistet werde.
    Zusammen mit den Vorsitzenden alevitischer Vereine hielt ich eine Lagebesprechung ab. Unsere gemeinsame Sorge war, dass es beim Eintreffen der Särge zu einem noch größeren Blutbad kommen könnte. Wir vereinbarten schließlich, dass die Vorsitzenden weiter beruhigend auf die Menge einwirken sollten, während ich bei den Medien Informationsarbeit leisten sollte.
    Nur unter Mühen schafften wir es wieder aus dem Gebäude heraus. Bevor ich zurück zur Zeitung fuhr, stieg ich mit einem Mikrofon auf einen roten Pickup, der mitten auf dem Platz stand. Ich rief nochmals zur Mäßigung auf, was von einem Großteil beklatscht wurde, während mehrere radikalisierte Kleingruppen mich auspfiffen.
    Von der Zeitung aus bemühte ich mich, die Presse im In- und Ausland über die Vorfälle zu informieren, und am Abend tat ich das Gleiche in mehreren Nachrichtensendungen im Fernsehen.
    Insgesamt kamen in jenen Tagen 17 Menschen ums Leben, davon sieben durch Polizeikugeln. Der Prozess, bei dem ich danach als Augenzeuge auftrat, wurde zum Schutz der Polizisten über Jahre hinweg verschleppt.

 
    A   ls ich 1994 für das Amt des Bürgermeisters von Istanbul kandidierte, konnte das nicht jeder nachvollziehen. Für mich jedoch ergab es sich aus einer gewissen Zwangsläufigkeit heraus. Mein Publikum sah in mir nicht einfach nur den Sänger, sondern lud mir für das, wofür ich mit meinen Liedern stand, eine moralische Verantwortung auf, und zwar mit der Zeit so hartnäckig, dass ich mich der Bitten um ein politisches Engagement kaum mehr erwehren konnte.
    Nachdem ich aber schon in früher Jugend mit der Politik und ihren Schattenseiten in Konflikt geraten war, stand mir nach Parteipolitik nicht der Sinn. Der typische türkische Politiker war für mich jemand, der den lieben langen Tag in Parteizentralen und Hotellobbys verbrachte und Intrigen

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