Emil
Die Stadt
In 250 Millionen Jahren werden die Kontinente verworfen sein, zu einem Klumpen zusammengepresst, in der Mitte ein großer, salziger Binnensee wie ein riesiger Tropfen, Überrest der Ozeane aus fernen Tagen. Große Glut wird herrschen, heiße Winde werden wehen, und in den Straßen der Stadt, die das Eis schon vor Millionen Jahren von der Erdoberfläche ausradiert haben wird, nur roter Sand, sengende Hitze, Spuren der Wüste. Kein einziges Lebewesen wird es in der Stadt geben, nicht einmal Spinnen oder Bakterien, völlig leer wird sie sein. Alle Straßenschilder werden in den Straßen verstreut liegen und tief im Erdinneren, unter kilometerdicken Schichten von Geröll, Eis und dergleichen, werden kopfüber, erloschen, die Straßenleuchten stecken. Zu dünnem Staub zermalmte Namen. Blätter im Sand. Lastende rote Stille auf der Erde. Ein paar Minuten vergehen. Ein Jahrzehnt. Zwei. Nichts bewegt sich. Alles steht still. Kommt man nach hundert Jahren wieder, ist alles unverändert. Man will schier verzweifeln. Man verzweifelt. Doch wie eine zersprungene Blumenvase, wie ein riesiges Puzzle, werden die Bruchstücke sich vielleicht allmählich wieder zusammenfügen. Mäßiger Mühe, ein paar Hundert Millionen Jahre vielleicht, wird es dazu bedürfen. Und siehe, nach dreißig, sechzig, neunzig Millionen Jahren ist da schon ein niedriger Baum oder ein zartgrüner Busch oder eine winzige Kreatur, die im heißen Wasser schwimmt. Blasen, Blasen im fauligen Schlamm. Solch gewaltige Mühe, in einem entlegenen Winkel des einzigen Kontinents beginnt schon ein Baum zu wachsen, da schlägt wieder ein Asteroid ein und löscht Fischlein und Baum aus, oder Eis bedeckt wieder das Meer und alle Lebewesen sterben, und erneut breitet sich eine Weile tiefer Schlaf über alles, dreißig Jahre, dreißig Millionen Jahre lang, da ist keine Uhr, um die Zeit zu messen. Und wieder ein Fischlein, diesmal ein wenig größer und mit Flossen bestückt. Und wieder Moos auf den Felsen. Und in den Flüssen fließt wieder Süßwasser und ergießt sich ins Meer. Und wer ist denn das, wer geht da in der Ferne, das ist ja ein Kind, das schon auf der Bildfläche erscheint, und am Flussufer sitzend eine Rechenaufgabe löst. 1 + 1 =
Genug. Steh auf, Joel. Steh auf. Die Eltern warten.
[ ]
Am Busbahnhof hielt [ ] oft bei den Bussen Ausschau. Manchmal stundenlang. Alle kommen hier vorbei, dachte er, auch er wird vorbeikommen.
Er
. Niemand erwiderte seinen Blick.
Hätte er ihn nur einen Augenblick lang sehen können, und sei’s aus der Ferne, es hätte ihm ein wenig Seelenruhe verschafft. Deshalb ging er anfangs durch die Straßen, ihn zu suchen. Stand einfach an Schulzäunen herum. Ist er das? Ist er das? Jahrelang.
Oft saß er am Busbahnhof oder in den Nebenstraßen und musizierte, manchmal wollte ihm jemand eine Münze zuwerfen, doch er hatte keine Büchse aufgestellt, und da der Instrumentenkasten zugeklappt war, warf ihm fast niemand etwas zu, manche legten etwas auf den Boden. Eines Tages, dachte er durch die Musik hindurch, würde er sich zu ihm herabbeugen mit einer Schekelmünze zwischen den Fingern. Alle kamen hier durch. Ja. Auch er würde, musste eines Tages kommen. Damals, 1970, hatten sie ihm den Namen Emil gegeben. Aber wer weiß, wie er nun hieß.
Joel
Steh auf, Joel, steh auf. Lauf.
Und im Laufschritt ist er schon fast drüben, tritt aus dem Baumschatten des Boulevards heraus, zerschnitten vom Rasieren inmitten des Vogelgezwitschers, den Klängen des Windes und des Windspiels auf den offenen Balkonen, er reiht sich in die Schlange für das Linientaxi, und als Jugendliche sich vordrängen, sagt er nichts, sondern wartet lieber auf das nächste. Sicher wird bald eins kommen. Nicht leer vielleicht, doch mit genau einem freien Platz. Ein alter Mann wird aus- und er selbst einsteigen. Hinein geht’s, als bahne er sich seinen Weg durch einen feuchten Dschungel, geduckten Hauptes durch das Wirrwarr der Stimmen in diesem Linientaxi Nummer 5, und setzt sich an die Stelle des Alten. Während das Taxi bereits mit quietschenden Reifen lossaust, kreischen von den Baumästen Orang-Utans, durchs dichte Laubwerk streicht leise ein Tiger, brüllt auf, von Norden her gleitet ein Eisberg langsam herab, auf dem verschneiten Horizont liegt die Sonne. Er setzt sich, legt seinem Vordermann die glänzende Münze in die nach hinten ausgestreckte Hand, nur her damit, her damit.
Also sagen Sie, Sie da, Professor, wandte sich der Fahrer an ihn, als setze
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