Roman unserer Kindheit
Jetzt soll es weiter zu Elektro-Lutscher gehen. Dort steht der Chef, solange seine Frau für neue Dauerwellen beim Friseur ist, höchstselbst hinter der Ladentheke. Er hat sich einen defekten Staubsauger zum Schrauben mit nach vorn genommen. Der gute Erwin Lutscher, der ein Herz für Kinder hat, sieht es gern, wenn sie angelaufen kommen, um die in den Schaufenstern ausgestellten Geräte zu bewundern. Eigens für die Buben und Mädchen der Neuen Siedlung hat er im Frühjahr einen alten Lautsprecher, eine ovale Membran aus schwarzer Pappe und einen messingfarbenen Magnetknopf, von innen ans Glas geklebt. Ein flaches Kabel führt zu einem Radio, und nun kann man, als machte die Scheibe Musik, leises Gedudel über den Gehsteig strömen hören.
Und damit nicht genug: Speziell für jene Kinder, die jetzt in den Ferien nicht mit ihren Eltern auf Campingplätze, ins Gebirge, an die Nordsee oder gar ins ferne Italien fahren werden, hält er seit gestern einen Fernseher, und zwar nicht irgendeinen, sondern seinen größten und besten, im Schaufenster am Laufen. Lutscher ist sicher, dass Mädchen wie Buben ihre helle Freude am scharfen Schwarzweiß, am absolut flackerfrei eingestellten Testbild haben werden. Kinder besitzen doch so viel Phantasie! Als er, es ist kaum ein Dutzend Wochen her, an einem Samstagmittag den neuen Fernseher der Böhms angeliefert hatte und mit der Justierung der Röhre beschäftigt war, standen die Böhm’schen Mädchen eine kleine stille Ewigkeit vor der Mattscheibe, obwohl es noch nichts weiter als das Testbild zu begucken gab. Da ging ihm, wie aus dem Nichts, eine kinderfreundliche und zugleich nützliche Idee auf. Er bat Frau Böhm, den ovalen Spiegel, der im Flur über dem Telefon hing, abzunehmen und denbeiden Mädchen quer in die Armbeugen zu legen. So konnte er die Schärfe der Striche, die Schwärze der Balken und die Rundung der Kreise kontrollieren, ohne immer aufs Neue vor das Gerät treten zu müssen.
Hinunter zu Elektro-Lutscher ist es nur ein kleines Stück. Aber weder der Ami-Michi noch der Schniefer, weder Sybille noch der Wolfskopf kämen auf die Idee, die Fahrräder an der Sparkasse und damit an den allerlangweiligsten Schaufenstern des Kreuztöterwegs vorbeizuschieben. Der Ältere Bruder, dessen Rad mit einem Plattfuß im Keller steht, läuft mit dem Wolfskopf zurück zur Metzgerei, wo der sich eben eine Mohnsemmel mit Wurst geholt und dann in der Seligkeit des Hinunterschlingens sein Fahrrad vergessen hat. Das Geldstück für die Semmel hatte er, als sie vom Hof herüberkamen, mitten auf der Kreuzung liegen sehen. Nach einem zögerlichen Bremsen und langsamen Vorüberrollen war er doch noch abgestiegen und hatte das Rad bis an die Münze zurückgeschoben. Sie lockte ihn zu arg. Er bückte sich, obwohl ihm etwas Schlimmes schwante, obschon er am Morgen gleich sechs Bierdeckel in die Speichen von Vorder- und Hinterrad geklemmt hatte, um irgendein Pech, ein tief im Bauch vorausgespürtes Missgeschick mit sechsfachem Kreisrund und mit unsichtbaren, weil mit Spucke aufgemalten Kreuzen abzuwehren.
Jetzt aber ab die Post! Die anderen sind schon längst am Ziel. Der Wolfskopf hebt den Hintern und steigt in die Pedale. Der Ältere Bruder hält sich mit einer Hand an den gekreuzten Lederhosenträgern fest. Ich kenne die Gelegenheit und nutze den Moment. Mein Herzpunkt pumpt. Wie stark ich bin! Ich fühle Bärenkräfte. Das Bild wird gleich ein wenig zittern. Pardon hierfür! Ich bitte, mir zu verzeihen, dass es sokomisch wackelt. Aber Gewalt bleibt auch im schönsten Fall Gewalt. Schon zieht es unserem großen Bruder mit Macht den Blick zur Seite. Schau hin! Schaut alle hin: Schon klafft die Lücke auf. Erneut müssen zwei Häuser die Schultern voneinander reißen. In gut vier Wochen, nach dreimal zehn Tagen, wird der alte Doktor Junghanns – genau wie unser großer Bruder – just an derselben Stelle den Blick zur Seite wenden und diese beiden Häuser zitternd und bebend wieder zusammenrücken sehen. Dann platzt ein klitzekleines, seit langem ulkig ausgebeultes Äderchen hinten in seinem Kopf. Sogleich wechselt sein rechter Fuß vom Gaspedal zur Bremse, der andere kuppelt aus. Natürlich hat er als Arzt erkannt, dass es sich um ein Schläglein handelt. Er schaltet in den Leerlauf, dreht mit der Rechten den Zündschlüssel zurück, während die Linke bereits über die Schläfe nach hinten tastet.
Ach, Blut bleibt Blut. Bei Tabak-Geistmann liegt ein schöner, nagelneuer Kriegsroman im
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