Rosarote Nachrichten: Roman (German Edition)
auf ihrem Kopf.
»He, he!«, schrie Henry. »Ihr seid kahl!«
Die Frauen lachten. »Jawoll. Keine Haare. Keine Lockenwickler mehr. Wir sind wie du, Henry!«
Er klatschte in die Hände und lächelte, schief, liebenswert. »Jetzt sind wir zusammen kahl. Wir sind alle kahl!«
Ja, wir waren alle kahl.
Ich nahm die Frauen fest in die Arme.
Die Hunde bellten. Die Katzen miauten.
Ich schniefte.
Später am Nachmittag wollte Henry in die Bäckerei, aber ich fuhr ihn erst für ein Nickerchen nach Hause. Er stritt sich eine Weile mit mir und Velvet, doch wir brachten ihn dazu, etwas zu essen und anschließend nach oben zu gehen. Noch während ich ihm vorlas, schlief er ein.
Im Flur traf ich auf Grandma und salutierte. »Hallo, Mrs Earhart.«
»Ich grüße Sie«, entgegnete sie. Sie trug ihre grüne Fliegermontur und hatte sich einen flotten gelben Schal um den Hals geschlungen.
»Wie geht es Ihnen heute?«
»Gutes Wetter für den Start. Ich werde bald losfliegen.« Sie ging auf Zehenspitzen in Henrys Zimmer, ein Schrittchen nach dem anderen. »Wecken Sie den Eingeborenen nicht«, flüsterte sie, nachdem sie Henrys Schulter getätschelt hatte. »Der Eingeborene ist krank, vielleicht Malaria oder ein Schlangenbiss. Er braucht seine Ruhe.«
Sie holte zwei Decken und ein Kissen aus dem Schrank und legte sich neben Henrys Bett auf den Boden. Das war nichts Neues. Seit Henry krank geworden war, schlief Grandma oft bei ihm auf dem Boden.
Während sich die nächste schwarze Depression anschlich, fragte ich mich, wie Amelia Earhart ohne ihren Eingeborenen zurechtkommen würde. Ohne ihren Kopiloten. Ohne ihren Freund. Leise schloss ich die Tür, bevor Grandmas Kummer mich übermannte.
Bommaritos Bäckerei war randvoll. Es war Mami-Mittwoch. Wir hatten sechzehn Mütter mit ihren Kindern da. Die Mamis reichten Weißwein in Thermosflaschen herum. Ich tat so, als bemerkte ich es nicht.
Ich ging nach hinten und schüttelte den Kopf über die Bestellungen. Geburtstagstorten, Hochzeitstorten und die üblichen Kekse, Gebäckstückchen, Brote und so weiter. Wir hatten zwei Jugendliche eingestellt, die im Herbst aufs College gehen würden. Der eine wollte Mikrobiologie studieren, der andere Gehirnchirurg werden. Jetzt hantierten sie erst mal mit Zuckerguss.
Baos Hände flogen. Belinda stach Kekse aus. Lytle und einer seiner Brüder rollten Teig.
Janie telefonierte wie wild, plauderte mit den Leuten, als wäre sie eine ganz normale Person und nicht für gewöhnlich auf einem Hausboot versteckt. Die Mädchen backten Cranberry-Nussbrot, und Cecilia nahm Bestellungen auf.
»Das ist verrückt«, sagte ich laut.
Cecilia lachte. Es war toll, dieses Lachen zu hören. Es war schon viel zu lange verstummt.
Die kahlen Köpfe der Mädchen schossen ruckartig hoch, als sie das Lachen ihrer kahlen Mutter hörten.
Ich sah, wie sie sich anlächelten.
Weder an diesem noch am nächsten Abend wollte Henry etwas essen. Er schwand von Tag zu Tag mehr dahin. Sein Lächeln war noch da, aber es wurde zusehends schwächer, sein Atem ging schwer, sein Gang wurde langsamer, sein Flugzeugmotor stotterte.
Die Entscheidung, die Chemotherapie zu beenden, war uns leichtgefallen. Dr. Remmer hatte den Kopf geschüttelt, als sie Henry eines Nachmittags sah. »Mach Hochzeit mit deinen Hunden, Dr. Remmer!«, hatte Henry gekeucht und sich schwer auf mich gestützt.
Das war’s dann, wir waren fertig. Wir gingen zu dem über, was euphemistisch als »Palliativpflege« bezeichnet wird und bedeutet, dass man es dem Betroffenen auf dem Weg zur Tür hinaus möglichst bequem macht.
An einem Mittwochabend fragte ich Henry, ob er immer noch zur Kirche gehen wollte. »Alles in Ordnung mit dir, Henry? Bist du müde? Wir müssen nicht hingehen.«
Henry fiel die Kinnlade runter. »Isi! Spinnst du? Wir müssen da hin. Henry hilft mittwochs in der Kirche. Was soll Pater Mike ohne mich machen? Er braucht Hilfe. Ich helf ihm!«
»Du hast recht, Henry. Du musst hingehen. Pater Mike braucht dich. Ich dachte nur, wenn du zu müde wärst, könnten wir einen Abend auslassen.«
»Nein. Kein Abend auslassen. Ich helfe.«
Wir stiegen ins Auto und fuhren schweigend. Henry streckte die Hand aus, und ich fuhr einhändig, die andere Hand in seiner.
»Henry«, fragte ich, »hast du Angst?«
»Angst?«
»Ja.«
»Angst vor der Kirche?« Er war perplex.
»Nein, nein.«
»Vor was dann?«
»Nichts, Henry. Ich hab was durcheinandergebracht.«
»Ha! Ha! Tu ich auch immer. Aber
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