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Rost

Titel: Rost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Meyer
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selbst kann
nicht so wüten wie ein provozierter Anwalt. Harris musste über seinen
kleinen Scherz selbst grinsen, und dann spürte er, wie er sich plötzlich leicht
fühlte. Die beiden Jungs waren es wert, gerettet zu werden, dachte er. Das
hättest du nicht gewusst.
    Ho hatte keine Ablösung beordert – er war selbst die ganze Nacht
geblieben. Weil er wusste, dass da irgendwas passierte. Alle wussten das,
dachte er. Alle diese Leute. Harris wusste, dass er aufstehen musste, aber es
war jetzt zwei Tage her, dass er richtig geschlafen hatte, und in diesem Moment
kam die Sonne durchdas Fenster, darauf hatte er gewartet, sie kroch über
den Boden auf ihn zu, so langsam, dass er zusehen konnte, wie sie
zentimeterweise auf der Holzmaserung vorankam, eine Minute lang wollte er sich
noch ausruhen und sie auf seinem Gesicht spüren. Und dann würde er den Tag beginnen.

8 . Poe
    Er wusste, dass er schon seit einer Weile im Krankenhaus war,
aber jetzt kam es ihm so vor, als wachte er zum ersten Mal auf. Tageslicht, im
Zimmer war es heiß, ein Parkplatz lag vor seinem Fenster, auf der anderen Seite
standen Häuser, und ein alter Mann goss seinen Blumenkasten.
    Eine Frau, wohl eine Schwester, zog den Vorhang auf.
    »Da bin ich«, sagte er.
    »Sie haben Glück«, sagte sie. »Sie haben viel Blut verloren, so
viel, dass Ihr Herz stehengeblieben ist. Sie haben Glück, dass Sie so jung
sind.«
    »Ich tausch jederzeit mit Ihnen.«
    »Wir hatten befürchtet, dass Ihr Hirn geschädigt wäre.«
    »Einen Hirnschaden hab ich bestimmt, aber nicht davon.«
    Die Frau lächelte und machte ihre Arbeit weiter.
    »Hab ich irgendwas gesagt, während ich weggetreten war?«
    Sie zuckte mit den Achseln. Keine Ahnung, was er meinte.
    »Was passiert jetzt mit mir?«
    »Die wollen Sie schon zurück, aber wir werden Sie noch ein paar Tage
hier behalten. Allzu viel Bewegung geht noch nicht, dazu befinden sich in Ihrem
Körper zu viel Nähte.«
    »Komm ich nach Fayette zurück?«
    »Zurück kommen Sie, irgendwohin«, sagte sie. »Bezweifle aber, dass
es dorthin ist.«
    »Darf ich Besuch bekommen?«
    »Nein«, sagte sie.
    »Darf ich meine Mutter anrufen?«
    »Vielleicht heut Abend.« Sie war auf dem Sprung. »Da draußen steht
ein Polizist. Nur dass Sie’s wissen.«

9 . Grace
    Später an demselben Tag klopfte es an die Hintertür. Sie lag
auf ihrem Sofa. Seit drei Tagen hatte sie nichts mehr gegessen, und sie hatte
keinen Wagen kommen hören.
    Von der Rückseite des Trailers kamen Schritte, und im Wohnzimmer
erschien ein kleiner, stämmiger Mann, registrierte sie auf ihrem Sofa und
machte dann einen Rundgang durch das Haus. Er war ihr unbekannt. Er kontrollierte
jedes Zimmer, ehe er zurückkam und sich neben sie stellte. Jetzt kommt’s,
dachte sie. Den haben sie dir geschickt.
    »Ich heiße Ho«, sagte der Mann. »Ich bin befreundet mit Chief Harris.«
    Er trug keine Uniform. Sie starrte.
    »Sie haben Familie in Houston, hab ich gehört.«
    »Wo ist Bud Harris?«
    Kopfschütteln. »Er hat sehr viel zu tun.«
    Sie spürte, wie sie eine Welle überrollte und dann wieder abebbte.
Sie schloss die Augen.
    »Ist hier jemand anders aufgetaucht, hat jemand sich mit Ihnen in
Verbindung gesetzt?«
    »Nein«, sagte sie ruhig. »Sie sind der Erste, den ich sehe.«
    »Das ist gut«, sagte er. »Gute Neuigkeiten.«
    »Würden Sie mir bitte sagen, was passiert ist?«
    Ho räusperte sich und sah sich um. »Mit Ihrem Sohn, das kommt in
Ordnung«, sagte er. »Aber Sie können hier nicht bleiben.«
    »Und wann fahre ich?«
    »Spätestens morgen früh.«
    »Ich hab seit Jahren meinen Bruder nicht gesprochen.«
    Achselzucken.
    »Kann ich Bud nicht sehen?«
    »Packen Sie jetzt«, sagte er freundlich.
    Sie nickte. Langsam roch es stark nach Essen.
    »Harris meinte, dass ich Ihnen was mitbringen sollte.«
    »Typisch Harris.«
    »Er hat manchmal von Ihnen gesprochen.«
    Dann kniete er neben ihr, ihm musste auffallen, wie schmutzig sie
war, plötzlich wurde es ihr klar, aber er reagierte nicht. Er hob sie sachte an
und legte ihr ein Kissen in den Rücken. Dann holte er eine kleine Schachtel aus
einer Papiertüte.
    »Hier«, sagte er. »Schön langsam.«
    »Weiß nicht, ob ich kann.«
    Doch als er ihr den ersten Löffel an die Lippen führte, machte sie
den Mund auf.
    ***
    Sie sah lange aus dem Fenster, nichts bewegte sich, die Nacht
war still und kühl. Sie schloss die Augen und sah ihren Sohn herankommen, es
war im Sommer und der Feldweg ausgetrocknet, staubig, dann kam er

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